Manuel Neuer, das Problem Nummer Eins

Am Samstag gegen Nürnberg hat er mal wieder spielentscheidend gepatzt, Manuel Neuer, der vermeintlich beste Torwart seiner Generation. Klar, Feulners Schuß hatte Effet, aber das kommt gelegentlich vor, sogar bei Gegnern, bei denen die Bayern drei Punkte fest eingebucht haben. Der Katastrophenfehler, der Thomas Kraft im April 2011 im Spiel in Nürnberg unterlief, als er von Christian Eigler gleichfalls zum 1-1-Endstand übertölpelt wurde, kostete den jungen Torhüter den Stammplatz und seinen Trainer Louis van Gaal den Job. Neuer wird Feulners Flatterball nichts kosten, genauso wenig wie die beiden kapitalen Böcke gegen Gladbach in seiner Gurkensaison 2011/12. Wer 25 Millionen Euro gekostet hat und von Kim Il McRummenigge mit öffentlichen Liebesbekundungen bedacht wird, steht über aller Kritik. Außerdem wollte vor dem Juni 2012 niemand den wie selbstverständlich anvisierten EM-Titel gefährden, indem er die Nummer Eins der Nationalmannschaft in Frage stellte.

Neuer hat zweifellos überragende Fähigkeiten, bei den Bayern aber ruft er sie aber viel zu selten ab. Seine Leistungskurve geht nach unten, seit er von Schalke weg ist. Dort hatte er beim kicker als Saisonnoten 2,61 (2006/07), 3,10 (2007/08), 2,91 (2008/09), 2,90 (2009/10) und 2,79 (2010/11). In der ersten Saison bei Bayern landete Neuer mit 3,13 auf Platz 16 im Torhüter-Ranking, sogar die bei Bayern ausgebooteten Michael Rensing (Köln) und Kraft (Hertha) standen vor ihm.

In der laufenden Saison hat Neuer die Note 3,00. Vor ihm stehen unter anderem Oliver Baumann (Freiburg), Raphael Schäfer (Nürnberg), der beim DFB ohne Hausmacht agierende Roman Weidenfeller (Dortmund) – und René Adler vom HSV, mit 2,17 auf Platz 2 hinter dem Überflieger Kevin Trapp (Frankfurt). Adlers eindrucksvolles Comeback zeigt, was es bewirken kann, wenn ein Torhüter Leistungsträger ist. Der HSV mit seiner angezählten sportlichen Leitung Frank Arnesen/Thorsten Fink wurde vor Saisonbeginn als Abstiegskandidat Nummer Eins gehandelt. Falls es einen einzelnen Spieler gibt, dem der Liga-Dino sein Sechs-Punkte-Pölsterchen zum Relegationsplatz verdankt, dann ist das Adler. Seit er beim HSV ist, wird die Mannschaft schrittweise besser. Bei Neuer ist man seit seinem Premierenpatzer gegen Igor de Camargo froh, wenn er nicht negativ auffällt. Neuer ohne Chance, so der Minimalkonsens, wenn es mal klingelt.

Ein einziges Spiel hat er den Bayern gerettet, das war das zweite Halbfinale in der Champions League gegen Madrid. Es folgten Rummenigges Elogen. Daniel Klewer hat dem Club gleich zweimal ein Elfmeterschießen gewonnen, im Achtelfinale gegen Unterhaching und im  Viertelfinale gegen Hannover, auf dem Weg zum Pokalsieg 2007. Ist er deswegen eine Kultfigur beim Club? Selbstverständlich. Aber der letzte Weltklassetorwart in der Noris war Andy Köpke. Klewer hat seinen Job gemacht, genau wie die vielen Amateurtorhüter, die auch schon mal ein Elfmeterschießen entschieden haben, vielleicht sogar gegen einen großen Verein. Klewer hat am Ende einen Titel geholt, Neuer nicht.

Neuer hätte zum Beispiel den Kopfball von Didier Drogba halten können, der das 1-1 im Champions League Endspiel 2012 bedeutete. Eigentlich unhaltbar, gewiss. Aber 2006 in der Verlängerung des WM-Endspiels entschärfte Gigi Buffon ein ähnliches Kaliber von Meister Zidane persönlich, ehe dieser dann mit einem weiteren Kopfstoß den vielen Gründen für seine Unsterblichkeit einen neuen hinzufügte. Der kicker schreibt: „Sekunden darauf hatte Zidane nach Sagnols butterweicher Flanke die Riesenkopfball-Chance, doch Buffon ließ den französischen Torschrei mit einem Superreflex verstummen.“ Diese Parade, nicht das anschließende Elfmeterschießen stellte Buffons Extraklasse unter Beweis. Auch Neuer hätte einen unhaltbaren Kopfball halten können, hat er aber nicht. Dafür hat er sich im Pokalendspiel 2012 gegen Dortmund von Lewandowski tunneln und einige Wochen zuvor im entscheidenden Bundesligaspiel vom gleichen Spieler mit einem Hackentrick übertölpeln lassen.  Klar, die Feldspieler der Bayern standen in allen drei Situationen neben sich, aber das war beim HSV zwei Jahre lang nicht anders – bis Adler kam.

Rufen wir uns die Voraussetzungen für Neuers kometenhaften Aufsteig noch einmal ins Gedächtnis. Nach der WM 2006 war Jens Lehmann die alleinige Nummer Eins im Tor der DFB-Elf. Als legitimer Kronprinz galt Timo Hildebrand, der seine Ansprüche mit der Meisterschaft im Tor des VfB Stuttgart 2007 unterstrich und danach mit dem Abstecher nach Valencia seine Karriere erst einmal gegen den Baum fuhr. 2008 beendete Lehmann seine Karriere im DFB-Team, Robert Enke und René Adler kämpften fortan um Platz Eins. Im November 2009 nahm sich Enke das Leben. Ein halbes Jahr später erlitt Adler einen Rippenbruch. Mit der Erfahrung von drei Halbzeiten in der A-Mannschaft wurde Neuer Stammtorhüter für die WM 2010. Er erledigte diese Herausforderung einerseits mit Bravour, andererseits mit der Diskretion eines Novizen. Den Kopfball von Puyol im Halbfinale 2010 muss man auch nicht halten, darf man aber. So wie Iker Casillas das gegen Arjen Robben im Endspiel irgendwie hingezwirbelt hat.

Im Halbfinale gegen Italien 2012 wurde Neuer wie auch im Verein Opfer seiner Vorderleute, so zumindest die offizielle Version. Ich finde, wenigstens Balotellis Kopfball zum 1-0 hätte er wegfausten müssen, anstatt auf der Linie zu kleben. Muss er eben Badstuber umnieten. Oder Balotelli und Badstuber. Das 2-0 hätten zugegebenermaßen weder Buffon noch Adler noch Köpke noch Casillas gehalten.

Die Bundesliga bringt in jeder Saison mindestens einen überdurchschnittlichen jungen Torhüter hervor: Ron-Robert Zieler, Marc-André ter Stegen, Bernd Leno. Mittlerweile herrscht, anders als im Mai 2010 kein Mangel. All diese Torhüter zerreißen sich auf dem Platz für ihre Mannschaft, auch wenn sie in der nächsten Woche vielleicht ihren Vertrag brechen. Neuer wirkt immer so, als spielte er für sich allein. Ich bin sehr gespannt, was passiert, wenn er weiter patzt, Adler weiter punktet und der wieder genesene und bei Schalke gut gestartete Hildebrand die internationale Bühne nutzen kann. Das Leistungsprinzip sollte beim DFB nicht nur dann angerufen werden, wenn es darum geht, verdiente Spieler abzuschieben. Wie wäre es mit einem ergebnisoffenen Wettbewerb zwischen Torwart 1a und Torwart 1b? Das hat doch 2006 sehr gut funktioniert.

Vielleicht hat ja Matthias Sammer ein Einsehen mit Neuer und verkauft ihn und Mario Gomez gleich mit. Sammer hat die beiden 25-Millionen-Einkäufe, die ständig besser gemacht werden, als sie spielen, nicht zu verantworten. Neuer hhätte anderswo die Chance, ein ganz Großer zu werden. Oder einfach nur besser als in den letzten 17 Monaten.

Derbywochenende

In der Alten Försterei gewinnt am Montag hoffentlich Union gegen Hertha., Bremen wird den HSV verarzten, und Düsseldorf spielt gegen Gladbach um die Tabellenspitze, weil Bayern am Sonntag gegen den ersten ernstzunehmenden Gegner der Saison nicht gewinnt. Gleich vier Derbys stehen an am Wochenende, und die engste Partie auf dem Partie ist die in Berlin.

Union und Hertha sind mit Pudding in den Beinen in die Saison gestartet, nichts Genaues weiß man noch nicht bei beiden Teams. Bei Union, so scheint es, schleichen sich langsam unausgesprochene Aufsteigsambitionen ein. Man denkt, wenn wir schon den herzhafteren Fußball als Hertha spielen, sollte es doch eigentlich auch für den Aufstieg reichen. Aber ob das in dieser wieder einmal stärksten Liga aller Zeiten wirklich so einfach wird.

Beim HSV isser wieder da: der verlorene Sohn Rafael van der Vaart. Ob er gleich zur Lichtgestalt werden wird, mal abwarten. In den drei Jahren, in denen Rafa beim HSV spielte, gab es ein 2-0 in Bremen mit zwei Toren des Mittelfeldhäuptlings, ansonsten drei Niederlagen und zwei Unentschieden für den HSV. Nach einem Punkt in Bremen würde Fink vermutlich vom Angriff auf die Europa-League-Plätze sprechen.

Von der Europa League spricht man auch in Gladbach. Auch wenn es knapp und tragisch war gegen Kiew, die Borussia soll froh sein, dass sie die CL nicht an der Backe hat. Dass die EL sexy sein kann, zeigt Hannover. Lieber die fliegenden Niedersachsen als das ätzende Ballgeschiebe in den CL-Gruppenspielen. Die Klasse für die CL hat man am Bökelberg längst nicht, gut ein Jahr nachdem man die Relegation gegen Bochum überstanden hat. Erst mal ankommen auf der europäischen Bühne. Früher spielte Gladbach immer im Düsseldorfer Rheinstadion, weil der Bökelberg zu klein (oder zu alt?) war. Jetzt kann man im eigenen Oval Fußballfeste feiern. Düsseldorf wird trotz des partiellen Zuschauerverbots eine harte Nuß.

Und die Bayern? Haben jetzt glücklich ihr Jodeldiplom ihren Spanier käuflich erworben. Vieles, was bei Bayern im Moment passiert, läßt eine schwierige Zukunft für Bastian Schweinsteiger erwarten. Im Moment ist er noch nicht fit, mag sein. Aber was ist, wenn Kroos, Gustavo und der neue Luxusheld Martinez besser sind als der Homeboy mit der echt bayerischen Alm credibility? Sitzt Schweinsteiger auf der Bank? Auf der Tribüne? Stuttgart hat gegen Wolfsburg zwar verloren, aber eine Nummer größer als Fürth sind sie trotzdem. Und ob die Bayern plötzlich kreativer spielen? Können Sie das überhaupt?

Umzingelt von den gleichgeschalteten Medien

Der Jünter hat ja so recht. Gestern Abend rund um den Boxhagener Platz gab es keine einzige Kneipe, die sich dem Formierungsdruck hätte entziehen können und bei der Sky-Konferenz geblieben wäre. Es gab nur noch das Spitzenspiel mit Franz „Die Mumie“ Beckenbauer als Co-Kommentator. Also stürzten sich meine Kollegin, die Schalke-Fan ist, und ich in das gelb-schwarz-rote Getümmel. Es war tatsächlich ein gutes Spiel und es ist fraglich, ob gegen die sich stets listig-gezielt verstärkenden Borussen (Perisic, Leitner, Reus, Gündogan) in absehbarer Zeit an der Säbener Straße ein Kraut gewachsen sein wird. Man kann den Schalkern den Torwart abwerben und den Leverkusenern den Trainer, aber irgendwann stößt jedes Festgeldkonto an seine Grenzen.

Ein surreale Note erhielt der Abend immer dann, wenn ich beim kicker die anderen Zwischenstände checkte. Ich meine damit nicht, dass der HSV 4-0 in Hoffenheim auf die Glocke kriegt, das ist lediglich ein notwendiger Zwischenschritt auf dem Weg zu neuer europäischer Größe. Sagen Arnesen und Fink. Also keine Panik bitte, nicht immer alles schlecht reden. Ein Hamburger Stadtderby in der Relegation liegt in greifbarer Nähe.

Traumverloren waren vor allem die Zwischenstände aus Nürnberg, die ich behutsam an meine Begleiterin durchgab. Nicht nur gelang gegen die Freunde aus dem Pott den höchsten Saisonsieg. In ihren Kommentaren nach dem Spiel sprachen Dieter „Die neue Sachlichkeit“ Hecking und Huub „Sorgenfalte“ Stevens unisono davon, Nürnberg hätte sich in einen Rausch gespielt. Mit Rausch (Friedel) verbindet sich einer der bittersten Abstiege der ruhmreichen Geschichte, insofern freut diese Einschätzung doppelt, auch wenn ich an diesem Abend nicht einmal vor dem Bildschirm dabei sein konnte.

Es ist die besondere Qualität der Nürnberger unter Hecking und Bader und dem angenehm zurückhaltenden Präsidium, auch bei längeren Durststrecken nicht in Panik oder Larmoyanz zu verfallen. Ein Verein, der in seinen wilden Jahren Schalke und Köln locker den Rang an innerer Chaotik ablief, ist realitätstüchtig geworden, und spielt trotzdem keinen Verwaltungsfußball. Die Mannschaft ist immer in der Lage, auch mal gegen einen besser aufgestellten Verein ein richtig gutes Spiel rauszuhauen. Das 3-0 in Leverkusen, das 1-0 gegen Gladbach und jetzt das 4-1 gegen Königsblau. Nachdem am Montag im kicker ein längerer Bericht über Julian Schieber zu finden war, der zögert in Stuttgart seinen Vertrag zu unterschreiben, könnte ein wichtiger Neuzugang demnächst vielleicht schon vermeldet werden. Schieber wäre genau der spielintelligente Brecher, den Hecking für seine Dreieroffensive bräuchte. Wollscheids Abgang ist mit Nilsson, Maroh und Klose bereits präventiv abgefedert worden. Zumindest die durchwachsene Heimbilanz mit bisher nur sechs Siegen sollte in der nächsten Saison ausgebaut werden. Man muss ja nicht gleich wieder Pokalsieger werden.