Guido, der Running Back

Ab dem 7. Januar beginnen die Playoffs in der National Football League (NFL), die dank ran online auch kostenlos in Deutschland zu sehen sind. Zeit, ein bißchen auf diese faszinierende Sportart zu schauen. Auf den ersten Blick ist American Football einfach. Entweder der Ball (das Ei, oder für richtig coole Säue: das Brot) wird vom Spielmacher der Offensive, dem Quarterback, auf einen Fänger wie zum Beispiel einen Wide Receiver (WR) geworfen, oder an einen Läufer, zum Beispiel einen Running Back (RB) übergeben. Der WR braucht gute Hände, damit er ein über 40 Yards geworfenes Ei/Brot magisch ansaugen und sicher fangen kann. Der RB muss Haken schlagen können wie ein Hase. Beide, Fänger und Läufer, dürfen das Ei/Brot auf keinen Fall fallen lassen, auch dann nicht, wenn sie von einem Abwehrspieler getacklet, sprich nach allen Regeln der fairen Sportskunst umgenietet werden. Eine Faustregel lautet: Wenn du den Ball berühren kannst, kannst du ihn auch fangen. Beschützt werden Quarterback, Wide Receiver und Running Back auf ihrem Weg in die gegnerische End Zone zum Touchdown von Offensivspielern, die eine lebende Wand um sie bauen, damit sie keiner umnieten kann. Pässe, vor allem lange Pässe, sind spektakulärer und für den Laien leichter zu begreifen als Laufspiele. Brot und Butter einer guten Offensive aber sind die Laufspiele. Sie sorgen für Variantenreichtum, Tiefe und Unberechenbarkeit und ermöglichen es, in einen Flow zu kommen, in den sich dann immer wieder Pässe einstreuen lassen. Während (gute) Fußballspiele ihre magische Wirkung auch daraus ziehen, dass eine Halbzeit mehr oder weniger ungebremst ihren Lauf nimmt, ist American Football Stop-and-Go. Die Spielzüge dauern meist nur wenige Sekunden, und sind ausgeklügelt bis ins letzte Detail. Im Fußball schnalzt man mit der Zunge, wenn beim Freistoß ein Spieler über den Ball steigt oder wenn ein Eckball einstudiert wird, die Rudelbildung von Wales bei den Ecken war das taktische Highlight der EM 2016.

American Football hat die Präzision eines Kammerorchesters

Im American Football ist jeder Spielzug einstudiert und alle Spieler der Offensive haben ihren Part dabei zu spielen. Man stelle sich eine Freistoßvariante vor, bei der alle Offensivspieler bis auf den Schützen choreographiert ihre Wege laufen. Das höchste der Gefühle beim Fußball ist immer noch eine gut funktionierende Viererkette, auch wenn die Offensive in den letzten Jahren wieder wichtiger geworden ist. Beim American Football gibt der Cheftrainer (Headcoach) in jeder der vielen Spielpausen einen Spielzug vor. Der Quarterback ruft einen Nummern- oder Buchstabencode und alle Offensivspieler müssen ihre Laufwege, Täuschungsmanöver und Blocks abgestimmt und in wenigen Sekunden ausführen. Erfahrene Quarterbacks, die lange mit einem Coach zusammenarbeiten, entscheiden manchmal auch selbst, welchen Spielzug sie ausrufen. Eine gute Offensive im Football arbeitet mit der Präzision eines Kammerorchesters. Der Cellist sitzt aber nicht an seinem Pult, sondern rennt zielsicher über das Feld, um mit seinen 160 Kilo einen Abwehrhünen zu neutralisieren, der auf dem Weg ist, Quarterback, Wide Receiver oder Running Back umzunieten. Improvisation in der Offensive ist im American Football die ganz große Ausnahme, was zählt ist Präzision in der Ausführung der Spielzüge und Variantenreichtum beim Einstudieren. Improvisieren muss vor allem die Defensive, die nicht weiß, welches Spiel die Offensive wählen wird. Dafür gibt es natürlich Erfahrungswerte, unendlich viele Videoanalysen und Spezialisierung auf dem Feld. Es gibt Abwehrspieler, die Jagd auf den Quarterback machen, jene, die die Wide Receiver decken – was am ehesten dem Deckungsverhalten bei einem langen Pass im Fußball entspricht – und wieder andere, die versuchen, Running Backs so umzunieten, dass sie nicht mehr rennen oder – noch besser – das Ei/Brot fallen lassen, damit es die Defensive ergattern kann. Ein Running Back muss deshalb nicht nur flink und wendig sein, er braucht auch Stehvermögen, falls ein gegnerischer Cellist angeflogen kommt.

Gudio Burgstaller denkt wie ein Running Back

Nachdem ich dank ran live NFL in den letzten Wochen mehr American Football gesehen habe als in den letzten 30 Jahren, wurde mir klar. Die große Begabung von Guido Burgstaller (neben seinem Torriecher) ist seine Art und Weise zu laufen. Er bewegt sich, er denkt wie ein Running Back. Fußballer versuchen entweder ihre Gegenspieler zu übersprinten. Oder sie umkurven ihre Gegenspieler wie Slalomstangen, ein passender Vergleich, weil Slalom- und Überläufer auf Geschwindigkeit gehen. Burgstaller geht auf die Lücke, genau wie ein guter Running Back. Er schafft es, im Dribbling durch zwei Abwehrspieler hindurch zu gehen, ohne zu foulen. Weil er so eine unglaubliche Physis aufweist, ist er oft in der Lage, den Ball nach so einer Kraftaktion auch noch an den besser postierten Mitspieler zu geben. Genau wie ein Running Back läßt er sich nicht hinfallen, jeder Inch, jeder Zentimeter zählt. Auch wenn er nicht jeden Freistoß kriegt, den er möchte, er ist ein Spieler, den man umreißen oder umtreten muss, um ihn zu stoppen. Ein Schubserchen oder Trikotzerren ist ihm egal. Burgstaller hat nicht die karnickelhafte Wendigkeit eines Götze oder Messi. Aber er bleibt im Spiel, er hält den Ball im Spiel. Mir fällt kein anderer Spieler ein, der mit dem Ball am Fuß in der Lage ist, so geradlinig durch eine Abwehrreihe hindurch zu gehen wie er. Terminator 2 aus Flüssigmetall kommt in den Sinn. Er verdribbelt sich selten, weil er keiner von den Dauerdribblern ist, die immer Vollspeed draufgehen. Er macht Trippelschritte bis er eine Lücke findet. Er verlangsamt und beschleunigt wie ein Running Back, der immerzu das Spielfeld vor sich lesen muss. Was diese Tempowechsel und die Ballsicherheit angeht, kenne ich keinen anderen Stürmer in Liga Eins und Zwei, der im das Wasser reichen könnte. Aubameyang ist der klassische Sprinter mit Ball am Fuß, Lewandowski kann ein Spiel besser lesen und stiehlt sich davon, Ibisevic ist ein klassischer One-Touch-Knipser. Aber Burgstaller ist der Ballträger par excellence, ein Running Back in rot und schwarz.

Und täglich grüßt die Extrawurst

17. Mai 2006 Champions League Finale zwischen Arsenal und Barcelona. In der 18. Minute foult Arsenals Torhüter Jens Lehmann den durchgebrochene Eto’o und sieht Rot. Arsenal verliert ein grandioses Endspiel mit 2-1. Knapp zwei Monate später WM-Endspiel in Berlin. Nach einem Kopfstoß gegen den Italiener Materazzi sieht Zinedine Zidane in der 110. Minute Rot. Frankreich verliert im Elfmeterschießen.

Auch wenn es die Vorstellungskraft der meisten Bundesliga-Schiedsrichter überschreitet: Es ist möglich und dem Spiel sogar förderlich, Regelverstöße von allen Spielern zu bestrafen, egal, ob sie in vermeintlich großen oder kleinen Mannschaften spielen. Die Welt geht nicht unter, wenn es Chancengleichheit gibt zwischen Favoriten und Außenseitern. Warum also ist es nicht möglich, Spiele des FC Bayern regelkonform zu leiten und stattdessen das Team aus München in penetranter Weise zu bevorzugen und die gegnerische Mannschaft zu benachteiligen? Und warum wird diese gängige Praxis von den meisten Sportjournalisten devot oder achselzuckend zur Kenntnis genommen?

Jeder im Stadion in Leverkusen hat gestern Abend gesehen, dass Thiago zwingend hätte Rot sehen müssen. Jeder im Stadion hat am vergangenen Samstag in Dortmund gesehen, dass Xabi Alsonso in der 88. Minute ein Foul an Aubameyang beging, indem er ihm auf den Fuß trat. Das hatte er im Spiel vorher schon dreimal gemacht, weil er läuferische Defizite hat. Jeder im Stadion formerly known as Volkspark hat am 4. Spieltag gesehen, dass Neuer einen Konterversuch in der Nachspielzeit per Handspiel an der Mittellinue unterband und Gelb anstatt Rot sah. Jeder im Berliner Olympiastadion hat am 17. Mai 2014 gesehen, dass Mats Hummels in der 65. Minute ein reguläres Tor für Dortmund im Pokalfinale gegen die Bayern erzielte.

Tom Bartels, der Erste Bayern-Schwadroneur der ARD*, wußte gestern zu vermelden, dass noch nie eine Mannschaft dreimal hintereinander Pokalsieger geworden ist. Es gibt auch keine andere Mannschaft, die in engen, in kritischen Spielen in nationalen Wettbewerben von den Schiedsrichtern so zuvorkommend bedient wird wie die Bayern. Das gleicht sich im Lauf der Saison nicht aus, das ist ein unschätzbarer Wettbewerbsvorteil, der die psychologische Ausgangssituation der Bayern gegenüber allen anderen Wettbewerbern drastisch verbessert, will sagen, den Wettbewerb systematisch verzerrt. Im Großen wie im Kleinen. Nehmen wir den 2. Spieltag der Saison 2010/11. Am ersten Spieltag verlieren die Bayern zuhause gegen Gladbach nach Fehler von Neuer. Der Torwart aus Schalke hat einen nennenswerten Teil der Fangemeinde gegen sich, nach seinem Patzer ist der Unmut größer geworden. Auch gegen Wolfsburg patzt er in der 39. Minute. Der reguläre Treffer von Helmes wird aber nicht anerkannt, warum, weiß keiner.  Bayern gewinnt durch ein Tor von Luiz Gustavo in der letzten Minute mit 1-0, und Neuer kriegt die Kurve. Es sind diese kleinen Extras, diese Mischung aus Nachsicht, Servilität und Regelblindheit, die am 27. Spieltag zehn Punkte Vorsprung bedeuten können, oder den erfolgreichen Einbau eines  Schlüsselspielers zu Beginn der Saison. Neuer hätte auch scheiten können, so wie Hildebrand in Valencia oder Özil bei Real Madrid. Das ist sein Berufsrisiko, das ein Schiedsrichter nicht zu mindern braucht. Genau wie es das Risiko der Vereinsführung ist, einen Transfer zu vergeigen.

Luiz Gustavo, der Siegtorschütze gegen Wolfsburg, ist ein schönes Beispiel dafür, wie gut es sich leben läßt im Bayern-Kokon. Der Brasilianer stieg 2008 mit Hoffenheim in die Bundesliga auf. In 82 Spielen für Hoffenheim sah er einmal Rot und viermal Gelb-Rot. Auch für einen defensiven Mittelfeldspieler eine äußerst rustikale Bilanz. Am 1. Januar 2011, in der Winterpause, wechselte Gustavo zu den Bayern. In den 67 Spielen dort sah er weder Rot noch Gelb-Rot. Zur Saison 2013/14 wechselte er nach Wolfsburg und sah in 29 Spielen dreimal Gelb-Rot. In den 26 Spielen der laufenden Saison ist er ohne Rot und Gelb-Rot ausgekommen. Ein Jahr lang hat Dieter Hecking gebraucht, um dem Ex-Bayern-Spieler beizubringen, dass für ihn jetzt Regeln gelten, um die er sich im roten Trikot nicht zu kümmern brauchte. Es ist nicht die superbe Technik, die man im Training an der Säbener Straße beigebracht bekommt, nicht das Bayern-Gen, die Bierruhe, das Mia san Mia, es ist die speziell für die Bayern geschaffene Komfortzone, die es für die anderen Vereine im Profifußball nicht gibt, die aus dem Risikofaktor Luiz Gustavo eine verläßliche Größe machte.

Wer sich sicher sein kann, dass er sich in Zweikämpfen die eine oder andere Grobheit mehr rausnehmen kann, wer weiß, dass für ihn spezielle Privilegien gelten, wer es gewohnt ist, dass ihm regelmäßig kleine Aufmerksamkeiten zuteil werden, der tritt auch entsprechend auf. Es gibt keinen anderen Verein, in dem ein Spieler, der wie Ribéry pünktlich wie ein Quartalssäufer zur Flasche zum Revanchefoul greifen würde, jedesmal ungeschoren davon käme. Der „emotionale Typ“, der wenigstens schon vier mal glatt Rot hätte sehen müssen, weiß, warum es bei den Bayern so schön ist. In keiner anderen großen europäischen Liga würde man ihm diese regelmäßigen Ausraster durchgehen lassen. Ich bin kein Fan von Cristiano Ronaldo, aber zum Fußballer Europas fehlt Ribéry tatsächlich das Format. Dass er ein guter Tempodribbler ist, steht außer Frage, aber wenn man Zidane vom Platz stellen kann, dann auch Ribéry. Und Thiago. Und Neuer. Ohne großes Tamtam einfach mal die Regeln anwenden.

Denn wenn es nach den Regeln geht, tun sich die Bayern schwerer, als es ihnen und ihren Claqueuren lieb sein kann, dann ist von der vermeintlichen Überlegenheit nichts zu sehen. Botaeng sieht Rot, Schalke punktet in München. Tobias Welz liefert keine überragende, aber fehlerfreie Leistung zu Beginn der Rückrunde ab, Bayern verliert 4-1 gegen Wolfsburg. Peter Gagelmann kriegt im kicker die Note 2, Dortmund vernascht Bayern im Pokalendspiel mit 5-2.  Auf internationalem Parkett das gleiche Bild. Der portugiesische Schiedsrichter Pedro Proenca beim Finale dahoam war ordentlich, aber nicht überragend, ebenso wie Howard Webb beim 0-1 im Halbfinale gegen Real vor knapp einem Jahr. Man muss keine Sternstunde haben als Schiedsrichter, man muss nicht über sich hinaus wachsen, um ein Spiel der Bayern ohne krasse Fehlentscheidung zu ihren Gunsten zu leiten. Man braucht Courage und den Willen, genau hinzuschauen, mehr nicht. Dann ist man in der Lage, das Undenkbare zu tun, und die Bayern nach den gleichen Regeln zu behandeln, die für den Rest der Liga gelten.

Dass die Bayern verläßlich ihre Extrawurst serviert bekommen, liegt auch am Umgang vieler Journalisten mit dieser Vorzugsbehandlung. Außer Günter Netzer (bei Länderspielen) gibt es keinen relevanten Experten, der nicht ein ehemaliger Bayern-Spieler ist, so sehr ich Stefan Schnoor auch schätze. Kahn, Scholl, Hamann, Matthäus, Beckenbauer, Effenberg, Helmer – für ein Land, das so reich gesegnet ist mit redseligen Ex-Profis, eine erstaunlich einseitige Auswahl. Ich war hocherfreut, als Erik Meijer neulich bei Sky auftauchte. Vielleicht ist es diese geballte Bayern-Präsenz, die es für Tom Bartels (und andere) unmöglich macht, einen einfachen Sachverhalt korrekt wiederzugeben. Bei einem Kopfballduell schlug Dante gestern seinem Gegenspieler, ich glaube, es war Spahic, ins Gesicht. Ob es eine Tätlichkeit war oder eine Versehen, ist unklar, aber es war ein Schlag ins Gesicht. Bartels beschreibt die Szene so: „Da hat sich der Leverkusener im Zweikampf mit Dante weh getan.“ Weh getan? Warum so schüchtern? Ist es Majestätsbeleidigung, einen Schlag ins Gesicht als solchen zu bezeichnen? Spieler machen Fehler, pausenlos. Nicht nur das. Spieler – das ist nicht unwesentlich für die Idee der Chancengleichheit – werden von ihren Gegenspielern zu Fehlern gezwungen. Handlungsschnelligkeit, Ballsicherheit und Matchplan führen zu Abspielfehlern, Stellungsfehlern und Fouls. Und diese Fehler nutzt man aus. Weil man gewinnen will. Xabi Alonso kommt zu spät gegen Aubameyang, es gibt Elfmeter für Dortmund. Thiago fehlt in seinem zweiten Spiel nach einem Jahr Pause die Kondition, Bayern muss 40 Minuten in Unterzahl spielen. Diese Fehler sollte man als Kommentator einfach mal benennen und nicht wie Bartels in eine reflexhafte Rechtfertigungslitanei verfallen, wann immer ein Bayern-Spieler einen Fehler macht. Dann spricht sich das eventuell bis zu den Schiedsrichtern herum, und dann, vielleicht, wird das Premiumprodukt Bundesliga kein mehrstimmiges Bayernweihfestspiel mehr, sondern ein sportlicher Wettkampf mit offenem Ausgang.

*nicht des ZDF [korrigiert 2015-04-09, 12.14 Uhr]