Löw und die Qual der Wahl

Es gibt Länder, die beneiden den deutschen Fußball vor allem um seine Torhüter. Selten jedoch nur ist es einem Bundestrainer so schwer gefallen wie in diesem Frühling, die Stürmer für eine WM auszuwählen, drängt sich doch Ausnahmespieler neben Ausnahmespieler in der aktuellen Torschützenrangliste der Bundesliga.

Ganz vorne finden wir Edin Dzeko mit bereits wieder 16 Treffern, der mit seinen Toren in Mainz einmal mehr bewiesen hat, dass seine überragende letzte Saison kein Zufall war. Dzeko, ein sturm- und erdverwachsener Niedersachse, wie er im Notizblock des Bundestrainers steht, begann in seiner dörflichen Heimat beim TSV Ölper, ehe er mit 14 Jahren zum VfL Wolfsburg wechselte. Er  durchlief alle DFB-Jugendmannschaften und scheint pünktlich zum Weltturnier die richtige Mischung aus jugendlicher Dynamik und routinierter Abgebrühtheit zu erreichen. Dzekos großes Plus ist seine Zuverlässigkeit. Bereits zum zweiten Mal hintereinander trifft er in einer Saison zweistellig, eine außergewöhnliche Leistung in einer Zeit, in der gehypte Pseudostars ein Jahr lang groß aufspielen, um dann wieder in der Versenklung zu verschwinden.

Ihm auf den Fersen ist der klassische Strafraumstürmer Lucas Barrios: wendig, explosiv, zweikampfstark. Dabei hatte der DFB großes Glück, denn Barrios war schon in den argentinischen Kader für ein A-Länderspiel gegen Paraguay berufen worden. Dann erlitt er eine schwere Beckenprellung, musste passen, und die einfühlsamen und lobenden Worte des DFB-Trainerstabs führten zu einem Umdenkprozess, an dessen Ende eine Berufung in das Team von Joachim Löw bei der Südostasienreise stand. Der kann sich froh schätzen, kein anderer deutscher Spieler, der auch nur annähernd so kopfballstark ist wie der Dortmunder.

Gute Chancen kann sich auch noch das Verfolgertrio Bunjaku, Derdyiok und Pizarro mit jeweils zwölf Toren ausrechnen. Bunjaku harmonierte in der zweiten Halbzeit gegen Argentinien prächtig mit Dzeko. Dem deutschen Angriffswirbel hatten die Gauchos irgendwann nichts mehr entgegenzusetzen. Derdyiok gelang es durch eine Klausel im Freihandelsabkommen für das Dreiländereck Basel-Lörrach-Mulhouse die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben, weshalb er sich gegen Ottmar Hitzfeld und für den DFB entschied. Claudio Pizarro ist, wie wir alle wissen, der Nachkomme sächsischer Silbersucher, die nicht nur vor 400 Jahren nach Peru auswanderten, um dort ihr Glück zu machen. Sie inspirierten Karl May auch zu seinem Weltbestseller „Der Schatz im Silbersee“, den er nur auf Anraten seines Agenten in den nordamerikanischen Kontinent verlegte. Zum Glück ist Löw nicht nachtragend, ohrfeigte Pizarro doch einmal im südamerikanischen Überschwang den Vermieter des Schwagers des Platzwarts der TuRu Wermelskirchen. Eigentlich ein schwerer Verstoß gegen den von Matthias Sammer entwickelten DFB-Ehrenkodex, nur eine Entschuldigung Pizarros bei allen Einwohnern von Wermelskirchen per Handschlag verschafften ihm eine zweite Chance.

Der lange Atem bei der Nachwuchsarbeit, die wunderbaren Wege des Einbürgerungsrechts und das von Joachim Löw stets streng objektiv angewendete Leistungsprinzip , das weder Pfründe noch Platzhirschen kennt, lassen in Südafrika ein Torfeuerwerk erwarten. Aber es können nur vier mitfahren. So unerbittlich ist Weltklassefußball, aber deshalb auch so ehrlich.

Blau und weiss, wie lieb ich dich

Die feinen Unterschiede: Vom Lied der Deutschen darf man nur die dritte Strophe singen, vom Schalker Lied darf man alles singen, nur nicht die dritte Strophe. Oder etwa doch? Natürlich gibt es die üblichen Verdächtigen, die ihr Sortiment an antimuslimischen Witzeleien und Hetzereien unter die Leute bringen. Dass ein nahezu vollkommen sinnfreier Vierzeiler wieder einmal Anlaß bietet, den Untergang des Abendlandes durchs Dorf zu treiben, zeigt, wie nervös und nervig die ganze Debatte ist. Gibt es zwischen dem beflissen multikulturellen „Das ändern wir natürlich!“ und dem westlichen Überlegenheitspathos verpflichteten  „Das ändern wir natürlich nicht!“ noch etwas anderes?

Von der Idee, historische Texte auf ihre aktuelle politische Unanstößigkeit zu überprüfen, halte ich nichts: Lessings Nathan ohne den Satz „Tut nichts, der Jude wird verbrannt“ aufzuführen, nähme dem Stück seinen Sinn, auch wenn der Satz nach Auschwitz eine völlig andere Bedeutung hat als zum Zeitpunkt, als er geschrieben wurde. Dass der Tempelherr der verstockte Fiesling ist, der mit dieser Aussage die Idee der Menschheitsbrüderschaft ablehnt, macht den Satz nicht einfacher. Auch Karl May, damit die deutsche Popkultur zu ihrem Recht kommt,  könnte größtenteils eingestampft werden, wollte man seine Aussagen über Muslime und Indianer am Verständnis des Jahres 2009 messen. David Wark Griffiths The Birth of a Nation, um die Wiege der westlichen Wertegemeinschaft nicht zu vergessen, verherrlicht den Ku-Klux-Klan und ist zugleich ein Meilenstein der Filmkunst.

Das Problem mit Strophe Drei ist wohl die Aufführungspraxis. Böse Menschen haben durchaus ihre Lieder und wenn 60000 Kehlen unreflektiert über Mohammed dahergrölen hat das eine andere Wertigkeit als das geschriebene oder im Theater rezitierte falsche Wort. Dass gedankeloses Grölen vor Fußballspielen lediglich sozialadäquates Verhalten darstellt, darf mit gutem Recht bezweifelt werden, solange Muslime diskriminiert, verprügelt und manchmal auch ermordet werden. Dass die inbrünstige Gedankenlosigkeit eines vollen Stadions und seiner Hymne mehr sein kann als harmlose Folklore, darf zugunsten der Kritiker unterstellt werden, solange andere kollektive Praxis gegen Muslime weder harmlos noch folkloristisch ist. Und manch ein Verfechter des frei gesungen Worts kommt nicht damit zurecht, wenn Muslime sich als politische Subjekte in der Öffentlichkeit äußern.

Bis auf einige Hardliner, deren wüstes Geschwätz in irgendwelchen Internetforen kaum Aussagekraft besitzt, weil diese Kommunikationsform anonyme Maulhelden magisch anzieht, geht es den Kritikern nicht darum, Strophe Drei zu verbieten, sondern ein Verständnis für mögliche Kränkungen zu schaffen. Ist ein gewisses Maß an Taktgefühl schon das Ende der Freiheit? Existiert die Bundesrepublik nur in den Schmerzgrenzen von 2009? Wenn du hier leben willst, mußt du das aushalten. Was für ein schäbiger Gesellschaftsvertrag das wäre, wäre dies die einzige Klausel.

Eine andere Antwort geben Monty Python, deren künstlerische Arbeit nicht an einem Zuviel an politischer Korrektheit gelitten hat: Ihren Song „Never be rude to an Arab“ haben sie insofern beherzigt, als sie sich lieber komische Situationen ausdachten und den britischen Durchschnitt verspotteten, als  Jagd auf Minderheiten zu machen.

Und was passiert jetzt im Frankenstadion am Samstag um 15.20, wenn Clubfans und Schalker gemeinsam das Schalker Lied anstimmen? Werden sie die dritte Strophe summen? Werden sie singen „Abraham war ein Prolet…“, weil sich darüber ganz bestimmt niemand aufregt? Oder werden sie Lessings Grundidee aufgreifen und singen: „Gott ist groß und ein Ästhet…“ Und das alles auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände.