Ein Retortenstück vom großen Kuchen

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Ich bin gespannt, wie es mit Wolfsburg weitergeht. Der dauerverhinderte Weltstar und Miesepampel Julian Draxler ist weg. Gegen den Jungspund mit der Provinzallergie, der mit Raúl zusammen 2013 immerhin das Tor des Jahres fabriziert hat, wirkt Zlatan Ibrahomovic, als hätte er eine Mediationsausbildung absolviert. Auch Klaus Allofs ist weg, ähnlich wie Thomas Schaaf oder Lennon/McCartney konnte er ohne seinen kongenialen Partner nie an die ganz große Zeit anknüpfen. Dafür ist Valérien Ismaël zum Cheftrainer befördert worden und einen neuen Sportdirektor gibt es auch, Olaf Rebbe. Zwischen Rebbe und Ismaël soll es mental-strategisch so mordsmäßig gefunkt haben, dass auch die Mannschaft wieder on fire sein soll.

Bei einer technischen Chartbetrachtung ist Wolfsburg mit 16 Punkten auf Platz 13 zwar ein heißer Abstiegskandidat, aber vielleicht hat ja die Bodenbildung schon eingesetzt und die Wölfe starten gegen den HSV eine Kursrallye. Aber wir wollen nicht spekulieren. Wolfsburg hat wie Hertha den großen Vorteil, dass sich nicht so viele Menschen für diese Mannschaften interessieren. Das heißt, es gibt fast immer Karten. Ich könnte mir zum Beispiel am 25. Spieltag am Samstag Wolfsburg gegen Darmstadt reinpfeifen und dann weiter gen Westen reisen, um am Sonntag Gladbach gegen Bayern zu sehen: Beim Boxenstopp in der Autostadt darf ein Besuch der Sonderausstellung zur Geschichte der Manipulation von Abgaswerten unter dem pfiffigen Titel Heiße Luft – Wichtig ist, was hinten rauskommt natürlich nicht fehlen.

Apropos gen Westen: Der Historiker Heinrich August Winkler hat eine zweibändige Geschichte Deutschlands unter dem Titel Der lange Weg nach Westen geschrieben. Dass am Ende dieses langen Weges Donald Trump auf die Deutschen wartet, ist schon ein bißchen tragisch. Wir haben uns so bemüht, unsere eigenen Sackgesichter auszutreiben und jetzt kommt der. Apropos Gladbach: Dort ist jetzt Dieter Hecking zugange, der besser ist, als ihm in Wolfsburg geschah. Wer es schafft, mit Nürnberg Sechster zu werden, der kann das mit Gladbach auch. Apropos Darmstadt: Torsten Frings ist der erste aus dem WM-Kader von 2006, der eine Stelle als Cheftrainer antritt, Klose ist Azubi beim DFB, fünf Spieler sind noch aktiv. Der Rest bildet die Generation Fernsehexperte (Ballack, Kahn, Lehmann, Metzelder, Hitzlsperger, Kehl). Wenn der Markenkern von Darmstadt Treten Beißen Spucken ist, dann ist Frings der richtige Mann am richtigen Platz. 8 Punkte sind trotzdem verdammt wenig, selbst wenn es bis auf den HSV nur 5 Punkte Rückstand sind.

Apropos Trainerkarussell: Nicht wenige Wegbegleiter und Kenner des 1. FC Nürnberg sind sich ja ganz sicher, dass der Club mit Ismaël garantiert abgestiegen wäre. Genauso, wie sie sich sicher sind, dass der Verkauf von Guido Burgstaller nach Schalke unvermeidlich war. Mit Zusatzklauseln soll Schalke am Ende bis zu 2,5 Mio. für den 14-Tore-Mann bezahlen. Das ist zwar ein bißchen realistischer als die mickrigen 1,5 Mio., die letzte Woche auf Twitter noch als gutes Geschäft gehypt wurden. Wenn in den Klauseln allerdings stünde, dass Schalke Meister werden muss und Burgstaller dazu 14 Tore beizusteuern hat, wäre es immer noch ein schlechtes Geschäft. Aber das kann dem Club nicht passieren. Dort wird endlich mit Augenmaß seriös gewirtschaftet, seit dieser Teufel in Menschengestalt, Martin Bader, nicht mehr sein Unwesen am Valznerweiher treibt, der dem Verein einen Pokalsieg aufnötigte. Bader steht mit Hannover gerade auf Platz 2 der Zweiten Liga. Dort werden weder der FCN noch der VfL Wolfsburg eine Spielklasse weiter oben landen. Aber wenn Ismaël eine gute Rückrunde gelingt, kriegt die Werkself das dringend ersehnte (Re)Tortenstück vom großen Kuchen.

„The Catch“ – 49ers vs. Dallas Cowboys 1982

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Auch wenn der Fußball mit Die Verwirrungen des Zöglings Draxler, Deutscher Mief in deutschen Umkleiden und Kaufrausch in Wolfsburg ein unterhaltsames Programm für die diesjährige Winterpause aufgelegt hat, bleiben wir transatlantisch unverbrüchlich noch ein bißchen beim American Football.

Heute jährt sich ein Ereignis, das prägend war für die Sportgeschichte der USA, vor allem in den achtziger und neunziger Jahren. Ich meine „The Catch“, einen der legendärsten Spielzüge in der Geschichte des American Football. Im Endspiel um die NFC-Championship, vergleichbar mit einem Halbfinale, trafen die San Francisco 49ers mit ihrem Head Coach Bill Walsh als Überraschungsteam der Saison 1981/82 auf ihre Erzrivalen, die Dallas Cowboys. The Catch am 10. Januar 1982 gehört in die Anfangsphase der Erfolgsära der San Francisco 49ers, deren Quarterback (Spielmacher) Joe Montana bis zum heutigen Tag zu den besten Spielern auf dieser Position gehört und vor allem dadurch berühmt wurde, schier aussichtslose Spiele kurz vor Schluß noch in einen Sieg zu verwandeln.

Joe Montana – The Comeback Kid, Big Sky, Joltin‘ Joe

„The Comeback Kid“ war einer seiner vielen Spitznamen, ebenso wie „Big Sky“ Montana (nach dem Motto des nahezu menschenleeren Bundesstaats), oder auch „Joltin‘ Joe“, weil er mit seinem Trickreichtum kaum auszurechnen war. Im Vergleich zu den akuellen Playoffs fällt auf, dass Montanas Spielweise auch nach modernen Standards eine ausgezeichnete und schön anzuschauende Balance zwischen seinen verschiedenen offensiven Spielzügen hatte – langer Pass, kurzer Pass, Laufspiel, Trickspielzug. Er beherrschte das ganze Repertoire, konnte ein Spiel lesen wie sonst kaum einer und besaß eine unglaubliche Nervenstärke. Tom Brady von den New England Patriots, der dieses Jahr als erster Quarterback die Chance hat, seinen fünften Super Bowl zu gewinnen (und damit Montana zu überflügeln) besitzt ebenfalls diese überragende Spielübersicht. Er spielt aber etwas kühler, intellektueller, nicht so schlitzohrig wie Montana. Die aktuellen 49ers haben gerade ihre schlimmste Saison seit Menschengedenken beendet und feuerten danach ihren Trainer. Ein neuer Bill Walsh, der mit Joe Montana seinen kongenialen Partner auf dem Feld hatte, ist leider nicht in Sicht.

Für die Cowboys läutete die Niederlage in Candlestick Park, dem alten Stadion direkt an der San Francisco Bay, den zwischenzeitlichen Niedergang nach einer großen Ära ein. Das Spiel ist im Moment in voller Länge auf YouTube zu sehen. Es war ein verrücktes, wildes, episches Spiel mit insgesamt neun Turnovers (Ballverlusten), davon sechs auf Seiten der 49ers, wobei ein Ballverlust im American Football beinahe so gravierend ist wie ein Eigentor im Fußball. Kleidung, Frisuren, TV-Ästhetik, das ist alles pure Achtziger, auch der Naturrasenacker von Candlestick ist historisch wertvoll. Aber auch nach 35 Jahren ist die Spannung, der Wettkampf zweier großer Mannschaften mit exzellenten Einzelkönnern in jeder Minute zu spüren. Weniger als eine Minute vor Schluß – in einer Minute im American Football kann so viel passieren wie in fünf Minuten im Fußball – düpierte Montana die Abwehrreihe von Dallas mit einem Pass in die Endzone auf seinen Wide Receiver (Fänger) Dwight Clark zum spielentscheidenden Touchdown. Die Cowboys mit ihrem 2,06 Meter großen Abwehrriesen Ed „Too Tall“ Jones, dem dominierenden Running Back der Saison Tony Dorsett und Erfolgscoach Tom Landry waren vom Underdog aufs Kreuz gelegt worden.

Bill Walsh am Taktikbrett

Auch noch viele Jahre danach versuchte Dallas The Catch als ungeplanten Glückstreffer kleinzureden um damit Montanas Leistung und die Größe des Spielzugs zu schmähen. In einem offiziellen Erinnerungsvideo der NFL zu The Catch kommen Dorsett, Jones und Landry ebenso zu Wort wie Clark und Montana. In einer Szene ist Bill Walsh, der Head Coach der 49ers zu sehen, wie er den Spielzug am Taktikbrett erklärt. Der Sieg über Dallas, dem der erste Gewinn des Super Bowl folgte, war kein Glückstreffer – er Präzision, Erfindungsreichtum und Schicksal. Happy Birthday to The Catch!

Kroos und Özil – Zu viel Qualität auf engstem Raum

Ein Mangel, den einige bei dieser EM ausmachen, ist die geringe Torausbeute. Kantersiege in der Vorrunde sagen allerdings kaum etwas über die Qualität eines Turniers aus.  Bei der WM 1994 gewann Russland sein drittes Gruppenspiel gegen Kamerun mit 6-1, Oleg Salenko erzielte fünf Tore und wurde später (zusammen mit Hristo Stoichkov) Torschützenkönig. Allerdings war Russland nach zwei Niederlagen in den ersten beiden Spielen bereits ausgeschieden, als Salenko seine Ninety Minutes of Fame hatte.  In Frankreich sind die Ergebnisse meistens eng und fast alles ist offen: Von 24 Spielen endeten acht Unentschieden, neunmal gewann eine Mannschaft mit einem Tor Unterschied, fünfmal mit zwei Toren, zweimal mit drei Toren. Bis auf die Ukraine können alle Mannschaften noch weiterkommen. Das Leistungsniveau ist für viele überraschend vollkommen ausgeglichen, auch wenn Spanien und Belgien im zweiten Spiel ihre Gegner Türkei und Irland dominierten.

Polen konnte bisher seine beeindruckende Qualifikation bestätigen. Nicht durch Übefliegersiege, sondern weil sie als Mannschaft extrem gut gegen den Ball arbeiten und – wie viele anderen Mannschaften auch – technisch ansprechend und leidenschaftlich antreten. Gegen die bundesdeutsche Auswahl ergab das ein Nullzunull der besseren Sorte. Das Spiel erinnerte mich an das WM-Finale 1994, als sich Brasilien und Italien 120 Minuten nahezu fehlerfrei beharkten. Kein episches Endspiel, kein Tor für die Ewigkeit – damals gab es Elfmeterschießen, am Donnerstag eine Punkteteilung.

Einschließlich des Vorbereitungsspiels gegen Ungarn, das vielleicht gar nicht so sehr ein Muster ohne Wert war wie vor dem Turnier angenommen, ist La Mannschaft jetzt seit drei Spielen ohne Gegentor. Zumindest das Defensivverhalten spielt sich langsam ein, der Verbrauch von Glück verlangsamt sich. In der Offensive wirkt die taktische Ausrichtung allerdings noch etwas diffus, weil sich zwei gute Spieler bisher dort im Weg standen. Thomas Müller bräuchte eine schöpferische Pause. Er wirkte schon in den letzten Wochen der Bundesliga-Saison überspielt und erschöpft und war gegen Polen nur ein fleißiger Schatten seiner selbst. Mario Gomez ist in seiner Zeit im Ausland gereift und wirkt nicht mehr so schnöselhaft wie einst. Wenn er allerdings mehr sein soll als ein Fremdkörper, muss er in die Startelf. Und er braucht Spieler, die ihn füttern, was für Schürrle in der Startelf spricht. Götze oder Draxler könnten dann statt Müller über rechts spielen, Özil wäre draußen.

In diesen Tagen, in denen kein Tag ohne pflichtgemäßes Sich-Echauffieren über Erdogan vergeht, haben viele „den Türken“ als vermeintlichen Schwachpunkt des Offensivspiels ausgemacht. Özil zeigt immer noch seine leicht phlegmatisch wirkende Körpersprache, trat aber in beiden Spielen extrem mannschaftsdienlich auf, gewann einige wichtige Zweikämpfe und trieb unermüdlich an. Sein Standing leidet auch darunter, dass er zu sehr an seinen genialen Momenten gemessen wird, eine gute Leistung reicht bei ihm nicht. Ich bezweifle, dass das Schwungrad der Offensive durch Özil und Kroos ganz vorne in Gang gebracht werden kann. Kroos mit seinen Schnittstellenpässen, Flankenwechseln und Schüssen aus der zweiten Reihe wäre der passende Mann für Schürrle und Gomez. Wenn Özil den zentralen Offensivmann geben soll, müßte Kroos sich weiter nach hinten orientieren und hätte dadurch noch bessere Steuerungsmöglichkeiten aus der Tiefe des Raums. Vor ihm könnte es dann die wuselige Variante sein mit Götze, Sané und eben Özil, dessen signature move nicht der 30-Meter-Diagonalpass aus dem Fußgelenk ist, sondern das Dribbling im und am Strafraum, wo er dann mit minimalinvasiven Kurzpässen die Lücke findet. Özil floats like a butterfly and stings like a bee, auch wenn er gerade 22 Kilogramm leichter ist als Ali beim Rumble in the Jungle. Özil und Kroos können beide spielen, aber nur einer kann der offensive Taktgeber sein, der dem Spiel seine Handschrift verleiht. Rückt Kroos nach hinten, wäre Khedira, der gegen Polen etwas fahrig auftrat, erst einmal draußen.

Für die erste Variante spricht, dass die Saison von Kroos noch etwas besser war als die von Özil, dass Gomez starten müsste und dass gegen die Nordiren wenigstens ein kopfballstarker Spieler vorne mit dabei sein sollte. Wohl dem, der solch ein Luxusproblem hat. Kein Wunder, dass der Bundestrainer lächelt.