Maximus Morlockus – ein fränkischer Exorzist

Selbst der kicker hatte gestern nichts zu meckern. Nach dem 3-0 gegen den 1. FC Kaiserslautern zum Auftakt dähamm gab es dort Lob für Clubcoach Michael Köllner. In den Wochen zuvor beschränkte sich die Saisonprognose darauf, Köllner seine kühnen Aussagen zu Beginn seiner Amtszeit Anfang 2017 immer wieder aufs Brot bzw. aufs Wäggla zu schmieren. Das Konzept, in der Rückrunde der vergangenen Saison mitten im Abstiegskampf ein System mit hohem Gegenpressing und kultiviertem Flachpass einzustudieren, war tollkühn. Hans Meyer stabilisierte den Club im Herbst 2005 zunächst mit einem Libero. Aber lieber ein wagemutiges Konzept als gar keins, so wie beim Vorgänger Alois Schwartz. Den verteidigte der kicker noch mit Zähnen und Klauen, als er schon entlassen war. Köllner hat gezockt und gewonnen. Genau wie Sportvorstand Andreas Bornemann. Der verzichtete auf Kevin Kutschke und Guido Burgstaller und hatte damit das Geld für Sebastian Kerk und die Verlängerung mit Hanno Behrens zur Hand. Bornemann hat seine Kritiker, darunter auch mich, eines Besseren belehrt. Kerk und Behrens sind zwei echte Big Points bei der Kaderplanung. O holde Frankenseligkeit.

Maximus Morlockus – Bierbrauer und Bettelmönch

Weil das Spiel  (Zu-Null!) so schön anzusehen war, geriet in den Hintergrund, dass es das erste Pflichtspiel im Maximus-Morlockus-Stadion war. Maximus Morlockus war ein Bettelmönch im 14. Jahrhundert, der sich aufs Exorzieren spezialisiert hatte. Sein Geburtsjahr kennt man nicht genau. Man vermutet, dass er 1327 in Weissenohe bei Forchheim das Licht der Welt erblickte, wo er der dortigen Klosterbrauerei als Findelkind vor die Tür gelegt wurde. Als gelehriger Adlatus des Braumeistermönchs brachte er es zu Fachkunde und Wissen. Seine kleine Schrift über die Braukunst Dä Daiffel stegd fei im Dedail aus dem Jahr 1351, die sich noch heute in der Bibliothek des Klosters befindet, verweist auf sein späteres Lebensthema. 1359 verließ Morlockus das Kloster, weil er sich mit dem neuen Braumeister, dem Nachfolger seines Ziehvaters, zerstritten hatte. Dieses Stammwürze-Schisma schwimmt heute noch wie eine tote Fliege im Maßkrug auf der sonst so süffigen Klostergeschichte. Morlockus aber ging seinen Weg. Er wanderte landauf landab durch Franken und lebte vom Exorzieren. Für seine Zeit war er außerordentlich modern. Er führte ein Rabattsystem für seine Stammkunden ein („Sammeln Sie Treuekreuze?“) und machte Sonderangebote für hohe Feiertage. Das Weihnachtsspecial aus dem Jahr 1360 Drey für zwey, Underdaiffel mid dabey ist ebenso im Germanischen Nationalmuseum überliefert wie sein Notzbüchlein. Dort findet man kurz vor seinem Tod im Jahr 1381 den Eintrag: www.auf-teufel-komm-raus.de. Als Visionär seiner Epoche dachte Morlockus offenkundig auch über Werbung im Internet nach, lange bevor es erfunden war. Außerdem konnte er Hochdeutsch, wenn es sein musste. Das Stammwürze-Schisma tat dem kommerziellen Erfolg der Brauerei in Weissenohe keinen Abbruch, weshalb sie zu Beginn der neuen Saison die Namensrechte am Heimstadion des 1. FC Nürnberg erwerben konnte. Ein kluger Schachzug war es, nicht dem billigen Trend zu folgen, und das Stadion einfach in Saufaus-Arena umzubenennen, sondern den berühmtesten Sohn Weissenohes, Maximus Morlockus, als Namenspatron zu wählen.

700 Tore für den Club und eins gegen Ungarn

Sein Name – das ist in Franken ein offenes Geheimnis – hat verblüffende Ähnlichkeit mit einem der legendärsten Fußballer in den Reihen des 1. FCN. Max Morlock (1925-1994) ist neben Helmut Rahn, Paul Breitner, Gerd Müller, Andy Brehme und Mario Götze einer von sechs deutschen Spielern, die in einem WM-Endspiel trafen, das gewonnen wurde. Der gebürtige Nürnberger war beim Club Mannschaftskapitän, zweimal Deutscher Meister und Fußballer des Jahres. Für den Club erzielte er in 900 Pflichtspielen mehr als 700 Tore, darunter in der ersten Bundesligasaison 8 Tore in 21 Spielen. Morlock war damals 38 Jahre alt und liegt bei den ältesten Bundesligatorschützen auf Platz fünf – hinter Mirko Votava, Manfred Burgsmüller, Morten Olsen und Günter Sebert. Einmal war ich dabei, als mein Onkel Karten für ein Club-Heimspiel bei Morlock besorgte. Er hatte einen Laden für Zeitungen und Zigaretten. Ich hatte den Namen Morlock schon gehört und trotzdem keine Ahnung, weshalb er ein Mythos war. Aber mein Onkel wurde ehrfürchtig, das habe ich gemerkt. Der alte Maximus Morlockus hat am Sonntag die Roten Teufel astrein exorziert. Für die kommenden mindestens 900 Heimspiele möge Maxl Morlock dem Club stets ein wirksamer Schutzpatron sein.

Guardiola – Losertriple statt Vizekusen

Vizekusen – seinen Schmäh- und Spottnamen hat sich Bayer Leverkusen 2010 patentieren lassen. Verliehen wurde der Elf von Klaus Toppmöller der Beiname, als sie 2002 in drei Wettbewerben nur Zweiter wurde. In der Bundesliga verlor Bayer am vorletzten Spieltag 1-0 in Nürnberg und Dortmund zog mit einem 4-3 beim HSV vorbei. In der Champions League verlor man mit 1-2 gegen Real Madrid mit einem genialen Zinédine Zidane, im DFB-Pokal unterlag man  4-2 gegen Schalke.

In der Champions League sind die Bayern mit Trainer Pep Guardiola dreimal hintereinander nicht einmal Zweiter geworden, sondern in der Vorschlußrunde ausgeschieden. Epische Endspielniederlagen wie 1999 gegen Manchester United oder 2012 gegen den FC Chelsea lassen sich irgendwie sinnvoll zur Pflege des eigenen Mythos einbauen, ein KO im Halbfinale bedeutet nur, dass es für  ganz vorne nicht gereicht hat. Ob das jetzt Trieze- oder Miezekusen heißt, kann dahinstehen, jedenfalls schleicht man nach dem Losertriple um die Bewertung von Guardiolas Amtszeit herum wie die Katze um den heißen Brei. Man preist seine vermeintlichen Verdienste schon allein deswegen, weil man der sportlichen Leitung der Bayern nicht den Vorwurf machen möchte, dass sie für ihre Ansprüche den falschen Mann verpflichtet hat. Guardiola hat schönen Fußball spielen lassen, das ist richtig, aber den gab es auch bei Bayer 2002 zu sehen, mit Ballack, Ze Roberto, Bernd Schneider, Lucio. Klaus Toppmöller war neben Jürgen Klopp, Thomas Tuchel, Hans Meyer und Thomas Schaaf einer der wenigen Trainer, die die Vormachtstellung der Bayern nicht vorauseilend akzeptierten, sondern mit Bayer ebenso wie bereits 1993/1994 bei Eintracht Frankfurt mit traumhaft schönem Fußball dagegenhielt. Mag Guardiola ein zumeist cleverer Taktiker sein, der Offensivstil von Toppmöller bleibt unerreicht und kommt dem Voetbal Totaal von Johan Cruyff näher als alles andere, was je in der Bundesliga je zu sehen war.

Jetzt, da Guardiola seine wesentlichen sportlichen Ziele nicht erreicht hat (und das Double 2014 nur gewann, weil Knut Kircher Borussia Dortmund ein reguläres Tor stahl), soll es plötzlich der künstlerische Gesamteindruck richten. Dass Atletico Madrid in beiden Spielen die reifere, die spielintelligentere Mannschaft war, die nicht nur Beton anrührte, sondern immer auch offensiv aktiv war, wird beiseite geschoben. Atleti war auch unter höchstem Druck stets technisch perfekt, verursachte bis auf das 1-0 durch Alonso im Rückspiel kaum Freistöße zu, spielte wenig Foul und hatte die wesentlich gefährlicheren Außenbahnspieler. Außerdem waren sie in der mannschaftlichen Geschlossenheit den Bayern ein Stückweit voraus. Die auch mit nominell schwächeren Spielern zu bilden, ist eigentlich Sache des Trainers. Karl-Heinz „Dolchstoß“ Rummenigge brabbelt sich dazu lieber seine eigene Verschwörungstheorie zurecht, und ausgerechnet Arturo Vidal erklärt, wie ein verdienter Einzug ins Endspiel auszusehen hat.

Wie groß das Bemühen ist, Guardiolas Nachruhm nicht zu beschädigen, zeigt auch das entschlossene Schweigen über zwei zweifelhafte Personalentscheidungen, den Verkauf von Bastian Schweinsteiger und das Mobbing gegen den Mannschaftsarzt Müller-Wohlfahrt. Schweinsteiger war ein Spieler, der für Guardiolas Stil mehr und mehr brotloser Schönheit viel zu grobschlächtig war. Aber er ist ein Mann mit Ecken und Kanten, einer der wie Lahm und Müller für das Selbstverständnis der Mannschaft dieser Jahre steht. Einer wie er hat gegen Atletico gefehlt. Stattdessen gab es im Mittelfeld Thiago und am Ende nix.

In der Triple-Saison unter Heynckes stand Arjen Robben in der Champions League 409 Minuten auf dem Platz und machte vier Tore, darunter das Siegtor gegen Dortmund. Für den Wettbewerb 2015/2016 stehen bei Robben 159 Minuten zu Buche, davon 90 im Hinspiel bei Juve, wo er ein Tor erzielte. Interessiert es wirklich niemanden, ob die minimalen Einsatzzeiten dieses besonders verletzungsanfälligen Spielers etwas damit zu tun haben, dass der langjährige Mannschaftsarzt erst zermürbt und dann geschasst wurde? Warum Guardiola den Mull vergraulte und warum die Vereinsführung dabei mitspielte, wird keiner der Verantwortlichen beantworten müssen, weil kein Journalist dazu Fragen stellt. 2015 würgte der Pressesprecher jede Nachfrage ab, heute wird bei der Guardiola-Bilanz Müller-Wohlfahrts unrühmlicher Abgang peinlich ausgespart.

Mir ist es recht, dass Bayern ausgeschieden ist, erstens war Atletico besser und zweitens sowieso. Irritierend ist, dass Guardiola trotz gravierender Fehlentscheidungen in drei Jahren jetzt in Watte gepackt wird. Nach dem Schlußpfiff am Dienstag machte kurzzeitig ein Tweet von Sport1 die Runde: „FC Bayern zieht nach 2-1 über Atletico Madrid ins Endspiel der Champions League ein“. Schön, wenn der strukturelle Wirklichkeitsverlust bei der Berichterstattung über diesen Verein und seinen Trainer Guardiola gelegentlich unfreiwillig so deutlich wird.

First and Ten – Superbowl 50

Bei ran konnte man in den letzten Wochen online und im Fernsehen die Playoffs der National Football League (NFL) sehen. Am 7. Februar steigt das Endspiel, der Superbowl 50.  Austragungsort ist das neue Stadion der San Francisco 49ers, die seit 2014 zuhause nicht mehr in Grumpy Old Candlestick Park spielen, sondern ein Stück weiter südlich in Santa Clara, mitten im Silicon Valley. Trotzdem heißt das Stadion nicht Yahoo oder Oracle, sondern Levi’s Stadium. Levi Strauss, der Erfinder der Goldgräberhose, kam ursprünglich aus dem fränkischen Buttenheim, zwischen Bamberg und Forchheim gelegen, nur so nebenbei. Die 49ers spielten eine miserable Saison, haben mit Chip Kelly aber einen sehr interessanten neuen Coach verpflichtet, vielleicht ein wenig mit Hans Meyer vergleichbar, sofern es einen Erdling gibt, der mit Hans Meyer vergleichbar ist. Im Endspiel stehen die Denver Broncos mit ihrem alten Schlachtroß Peyton Manning als Quarterback. Sie treffen auf die Carolina Panthers aus Charlotte, North Carolina mit dem ihrem Überflieger-Quarterback Cam Newton. Der legt so rotzfreche Laufspiele hin, dass er mich ein wenig an „Joltin‘ Joe“ Montana erinnert, der manchen als bester QB aller Zeiten gilt und ab 1981/82 mit dem Gewinn des Superbowl XVI die goldene Ära der 49ers einläutete.

Sie wissen nicht, was ein Laufspiel oder ein Quarterback ist? In diesem Fall ist die Berichterstattung auf Sat 1 rückhaltlos zu empfehlen. Die Sendungen zur NFL sind ein echter Geheimtipp. Eine gelungene Mischung aus hochkarätiger Fachsimpelei, hemmungsloser Begeisterung für diesen außergewöhnlichen Sport und hintergründigem Antifernsehen, das alles macht, außer sich selbst zu ernst zu nehmen.

Die Moderatoren zum Beispiel spielen ihr ganz persönliches Bullshit-Bingo. Eigentlich haken beim Bullshit-Bingo Fernsehzuschauer auf einem Zettel die Dauerphrasen von (Sport)moderatoren ab, sobald diese sie von sich geben. Bei ran NFL machen sich die Moderatoren selbst über ihre Phrasen lustig. Momentum zum Beispiel, eines der Schlüsselwörter in der Berichterstattung des US-Fernsehens, von dem ran die Bilder übernimmt. Es läßt sich kurz und knapp mit Eigendynamik des Spielverlaufs übersetzen.

Das Moderatorenteam bei ran besteht aus dem früheren Basketballer Frank Buschmann, Roman Motzkus, ehemals Wide Receiver bei den Berlin Adler, dem vormaligen Quarterback der Cologne Crocodiles Jan Stecker sowie Patrick Esume, der als Assistant Coach unter anderem bei den Oakland Raiders  in der NFL gearbeitet hat. Und dann gibt es noch einen gewissen Icke, der eigentlich Christoph Dommisch heißt, und vom Katzentisch aus vor einer großen Social Media Leinwand die Sendung mit dem üblichen Social Media Trash anreichert. Zum Beispiel zeigt er ein gepostetes Foto von Footballfans in Schottenröcken mit dem Hashtag #schottentragennichtsdrunter. Oder ein gepostetes Foto von Footballfans, die kleine Hüte aus gelbem (Plastik)Käse tragen, weil sie Fans der Green Bay Packers sind. Oder die tausend Smileys von Gisele Bündchen, wenn ihr Ehemann Tom Brady, Quarterback der New England Patriots, einen Touchdown-Pass geworfen hat. Oder einen Kalender, bei dem die Köpfe der fünf Moderatoren so elegant auf die Körper von NFL-Cheerleaders montiert sind, dass man sich an Windowlicker von Aphex Twin erinnert fühlt. Was man halt so zeigt, wenn es früh um halb fünf ist. Und was man natürlich auch unbedingt sehen will, wenn Quarterback Carson Palmer von den Arizona Cardinals gerade seine vierte Interception geworfen hat.

Der Umgangston ist fachlich kompetent, aber locker. Den einen Abend war „hamsti bamsti“ zu hören, eine schöne Reminiszenz an den frühen Robin Williams, als er noch Mork vom Ork war. Der Football heißt „das Brot“, man flachst sich an, springt brüllend vor Begeisterung vom Moderatorentisch auf, und ab und zu sagt einer „ohne Scheiß“. Das ganze hat den Charakter eines niveauvollen Kneipengesprächs unter Gentlemen. Keiner macht die Lieblingsmannschaft des anderen nieder, keiner will es den Zuschauern zeigen, niemand will Recht haben. Das ganze wird angereichert mit zahllosen Anglizismen. Der Quarterback wird von den Defensivspielern der gegnerischen Mannschaft gesacked, und eingesackt trifft es ganz gut, was ihm da passiert. Pässe werden overthrown, plays gecalled, geblocked wird one on one oder eins auf eins, und manch Quarterback zeigt gegen Ende des Spiels ein gutes clock management.

Für den Laien – sofern er ein Fünkchen Interesse für den Sport aufbringt – sind bei der ersten Begegnung mit (American) Football die millimitergenauen Pässe über manchmal dreißig, vierzig Meter das zunächst Faszinierende. Und Millimeter heißt hier wirklich Millimeter. Football ist um einiges präziser angelegt als Fußball. Für mich, der im Schlagballweitwurf immer eine Vier Minus hatte, grenzt es an Hexerei, wie man das Brot ohne Wobble/Flattern so weit so exakt werfen kann. Vor allem, wenn gerade vier 150-Kilo-Hünen auf den Werfer zustürmen.  Sagen wir es so: Eine erfolgreiche Footballmannschaft, egal ob Offensive oder Defensive, spielt mit der Präzision eines Symphonieorchesters, nicht nur, was Notenwerte und Tonart angeht, sondern bis in die Phrasierung hinein. Ein sehr gutes Fußballspiel ist im Vergleich dazu eine richtig geile Jam Session. Man hat sich vorher auf die Form geeinigt (Blues in F oder Summertime bzw. Viererkette, Ecke auf den kurzen Pfosten), die Details ergeben sich aus der Situation. Es gibt im Fußball mehr Freiräume, mehr Platz zum Improvisieren.  Anders als im American Football gibt es mehr Möglichkeiten, einen Fehler zu korrigieren und Eigeninitative zu entwickeln.

Die eigentliche Seele des Spiels aber sind die Laufspiele. Ein Spieler rennt mit dem Ball unter dem Arm und wird frei gesperrt oder durch gegnerische Blocks gestoppt. Diese Suche nach dem freien Raum in Sekundenbruchteilen, die einstudierte Choreographie des Laufspiels und ihre Zerstörung, das gibt dem Spiel die taktische Tiefe. Die Viererkette der Italiener bei der EM 2000 – Cannavaro, Nesta, Pessotto, Maldini – hatte eine Schönheit in ihrer Präzision, die gutem Laufen und Blocken im Football nahekommt. Aber auch nur nahekommt.

Viel besser erklären als ich kann das Patrick Esume, dessen Erläuterungen zu den einzelnen Spielzügen, taktischen Optionen, Fehlern und Geistesblitzen das Interessanteste und Beste an Sportberichterstattung ist, seit Franziska van Almsick die Schwimmwettkämpfe bei den Olympischen Spielen in London 2012 kommentierte. Esume und die Gang von ran sowie van Almsick teilen eine Gemeinsamkeit: Respekt vor dem Athleten. Nicht Respekt vor dem erfolgreichen Athleten, sondern auch vor der Tatsache, dass jeder Wettkampf Verlierer braucht, um Sieger hervorbringen zu können. Das Auftreten der deutschen Schwimmer in London war wenig erfolgreich. Aber auch wenn ihr Co-Moderator den sportlichen Wert dieser Schwimmwettkämpfe auf die Frage reduzieren wollte, warum denn die deutschen Schwimmer aus seiner Sicht so jämmerlich versagt hatten, van Almsick wich keine Sekunde von ihrer Linie ab, den Sport zu erläutern. Sie sprach über Trainingsabläufe, mentale Vorbereitung, Taktik im Rennen, über alles, aber niemals bemängelte sie fehlende Siege oder machte ihren Kolleginnen und Kollegen Vorwürfe.

Beim zweiten Halbfinalspiel der NFL (eigentlich war es die NFC Championchip, aber das würde hier zu weit führen) trafen mit den Arizona Cardinals und den Carolina Panthers die punktbesten Mannschaften der Regular Saison aufeinander. Die Panthers gewannen 50-15, Carson Palmer, der Quarterback der Cardinals, warf das Brot vier Mal zum Gegner, der beste Passfänger des Teams Larry Fitzgerald, ließ zweimal unbedrängt den Ball fallen, was ungefähr so gravierend ist wie Kahns Patzer im WM-Endspiel 2002.

Von Häme im ran-Studio keine Spur. Bis zum Schluß grübelten die Moderatoren, was den Cardinals vielleicht noch einfallen könnte, woran es liegen konnte, welche Fehler gemacht wurden, warum die Panthers so stark waren. Sie machten ihren Job, erklärten und analysierten, was da gerade passierte, immer wieder aufgelockert durch Ickes situationistische Einlagen. Es war bei allen Spielen sehr viel Respekt vorhanden für eine Mannschaft, die gerade nach allen Regeln der Kunst in ihre Einzelteile zerlegt wurde, für jeden Spieler, der durch einen individuellen Fehler zur Niederlage seiner Mannschaft beitrug.

Es ist kein Zufall, dass es Ex-Profis sind, die in diesen Situationen einen anderen Zungenschlag pflegen als die meisten Journalisten.  Und es ist auch kein Zufall, dass es Randsportarten sind, die einen anderen Umgang ermöglichen als das dauernde Warten auf den Erfolg, die Spitzenleistung, das Jahrhundertmatch. Auch wenn alle froh sind, wenn der Medaillensegen wächst, ja, auch Schwimmen ist eine Randsportart.

Am anderen Ende der Fairness-Skala findet sich der jetzt ob seines bevorstehenden Abschieds hochgelobte Marcel Reif. Mag sein, dass er mit der deutschen Sprache präziser umgeht als die meisten seiner Kollegen, zugleich ist er aber auch der Großmeister der Herablassung. Würde man Bullshit-Bingo spielen, während Marcel Reif ein Spiel moderiert, könnte man früher oder später das Wort „Klassenunterschied“ von seinem Zettel streichen. Keiner ist so schnell bei der Hand, wenn es darum geht, einer von zwei Mannschaften die sportliche Berechtigung grundsätzlich abzusprechen. Auch die von ihm gern gebrauchte Formulierung „X kann sich nur selbst schlagen“ bedeutet die vollkommene Entwertung eines der beiden Kontrahenten. Wenn sich X nur selbst schlagen kann, dann ist Y eigentlich überflüssig, dann muss man weder wissen, wie das Spiel ausgeht, noch Y Respekt dafür zollen, dass sie es an einem Tag, in einem Spiel geschafft haben, besser oder glücklicher zu sein als X. Dann ist Y ein Hochstapler, wenn es gewinnt. Denn Y hat gar nicht gewonnen, X hat sich selbst geschlagen.

Reif ist die Galionsfigur einer Sportberichterstattung, die sich (im Fernsehen) fast immer als todernstes Weihfestspiel, oftmals mit nationalem Auftrag sieht. Es gibt keinen Schnack, keine Lässigkeit, keine Albern- und Blödheiten, naürlich auch nicht bei ran und Sat 1 in seiner Fußballberichterstattung. Man will Sieger zeigen, nicht den Sport vermitteln. Die meisten Kommentatoren sind Einpeitscher, die bei jedem Spiel mit deutscher Beteiligung von der ersten Sekunde an Argumente zusammentragen, warum nur die Deutschen – egal ob Nationalelf oder Verein – dieses Spiel gewinnen werden. Wenn Per Mertesacker nach dem Achtelfinale 2014 gegen Algerien die Faxen dicke hat, wird er zum Problemfall abgestempelt. Gewinnen ist etwas Schönes, gewiss. Der Pokalsieg von Nürnberg wärmt auch nach neun Jahren noch die Seele in düsteren Zweitligazeiten. Das 7-1 gegen Brasilien waren neunzig Minuten Genialität und Schönheit. Aber der Respekt vor dem Verlierer ist so wichtig wie die Freude über den Sieg. Man kann von „seinem“ Sport nur dann so rückhaltlos begeistert sein wie die Leute bei ran NFL, wenn man die Notwendigkeit der Niederlage akzeptiert hat. Man kann das Leben nur wirklich lieben, wenn man seine Sterblichkeit akzeptiert hat.

Kickoff für den Superbowl 50 ist in der Nacht von Sonntag auf Montag um 23.15 Uhr. See you in the end zone.