Die Mannschaft lebt, Charlie Brown

Nachdem ich gestern in der Süddeutschen Zeitung ARD und ZDF Beweihräucherung der deutschen Mannschaft vorgeworfen habe, kann ich jetzt Boris Büchler schlecht wegen vermeintlich hyperkritischer Fragen an Per Mertesacker kritisieren. Büchler ist einer der Lichtblicke beim Umgang mit Interviewpartnern. Aber ich kann Mertesackers Reaktion bei diesem kleinen Scharmützel verstehen. Seine Gegenfrage: „Wollen Sie, dass wir toll spielen und dann wieder rausfliegen?“ war großartig.

Mir fällt jetzt leider nicht ein, welcher Trainer gesagt hat, dass man auf dem Platz dauernd denken muss, dauernd überlegen muss, was man tut, damit man gewinnt, und wenn man aufhört zu denken, verliert man das Spiel. Klingt irgendwie nach dem Kopfarbeiter Guardiola, aber vielleicht war es auch jemand anderes. Löw? Ancelotti? Tuchel? Die deutsche Mannschaft jedenfalls hat genug von rauschhaften Siegen. Wer sich in einen Rausch spielt, denkt nicht nach. Alles läuft von allein, jeder Schuß ein Treffer. Alle jubeln, alles schick. Wenn dann das erste Spiel kommt,  nachdem der Rausch verflogen ist, weiß man nicht mehr weiter, dann fliegt man raus, geht an seiner Einfallslosigkeit zugrunde. Wie gegen Spanien 2010 und gegen Italien 2006. Deshalb auch die beinahe betretenen Reaktionen der Spieler nach dem Spiel gegen Portugal. Sind wir schon wieder so weit? Geht das schon wieder los?

Rausch ist keine Strategie. In den beiden schwierigen Spielen gegen Ghana und Algerien haben Löw und seine Spieler nach einer Antwort suchen müssen und jeweils die passende gefunden. Gegen Ghana setzten Schweinsteiger und Klose die entscheidenden Impulse, gegen Algerien war es der Superjoker Schürrle, der seit vielen Spielen immer da ist, wenn man ihn braucht. Es ist schön zu sehen, wie sich die drei „Engländer“ Özil, Schürrle und Mertesacker weiterentwicklen, auch wenn ihre Vereine keine ganz große Saison hatten.

Nach dem Ausscheiden von Mustafi spielte die alte Doppelsechs Khedira/Schweinsteiger und Lahm war endlich wieder außen. Also die Grundausrichtung von 2012. Entscheidend daran ist der zwischenzeitliche Lernprozess. Wenn sie mit dieser Startelf angefangen hätten, die Platzhirsche Khedira und Schweinsteiger durchgeschleppt hätten, bloß weil sie immer schon so gespielt haben, dann wäre das zu wenig durchdacht gewesen. Gedankenlos. Jetzt, nach vier Spielen mit vier verschiedenen Aufstellungen, spricht tatsächlich alles dafür, Lahm nach außen zu ziehen, schon allein, weil Kramer ja auch noch da ist. Der gab als WM-Debütant eine sehr entschlossene Figur ab, patzte hinten nicht und tummelte sich ab und zu auch vorne.

Dieses hart umkämpfte, klug herausgespielte und glückliche 2-1 gegen wirklich grandiose (und im Abschluß zu schlampige) Algerier hat einen sportlich viel höheren Stellenwert als die beiden überlegen geführten Spiele gegen England und Argentinien 2010. England ist seit 1996 ein Schatten früherer Tage, Argentinien stand vor vier Jahren im ganzen Turnier neben sich. Das führt zu der Frage, wie die Fußballöffentlichkeit hierzulande die Gegner einschätzt (erster Impuls immer noch: Die hauen wir weg) und welche Art von Spiel sie glücklich machen würde. Wer erwartet denn heutzutage noch Kantersiege in einem Achtelfinale? Bei dieser WM gab es zwei Spiele mit zwei Toren Unterschied, zweimal Elfmeterschießen, eine Verlängerung und die Beinahe-Verlängerung bei Holland – Mexiko. Wäre ein Achtelfinale wie gegen Schweden 2006 besser gewesen? Zwei schnelle Tore und dann 80 Minuten lang Ergebnis verwalten gegen einen überforderten Gegner? Dann doch lieber in jedem Spiel gefordert werden.

Natürlich ist es nervenzerfetzend, wenn Neuer viermal im Eins gegen Eins klären muss, aber im Vergleich zu Balotellis 2-0 im Halbfinale 2012 kommt die Mannschaft mit überfallartigen Kontern mittlerweile viel besser zurecht. Außerdem ist eine hochstehende Viererkette mit dem beidhändigsten Libero der Welt natürlich viel aufregender gegen eine tolle Kontermannschaft, als sich am eigenen Strafraum bis zum Stehkragen einzubunkern. Nebenbei: Wenn die Deutschen sich nicht Chance auf Chance erspielt hätten, hätte M’Bohli keine Weltklasseleistung zeigen müssen.

Erfreuliche Kleinigkeiten: Özil glänzt nicht, aber er hat in der zweiten Halbzeit einen defensiven Zweikampf nach dem anderen gewonnen und das entscheidende Tor gemacht. Schweinsteiger kann über 90 Minuten eine WM-taugliche Leistung abrufen. Löw hat im Rahmen der Möglichkeiten seinen Kader klug zusammengestellt. Man kann natürlich die Frage stellen, warum ein so erfahrener und defensiv polyvalanter Spieler wie Gonzalo Castro nicht dabei ist, aber das gestörte Verhältnis des DFB zu Spielern von Bayer Leverkusen würde den Rahmen sprengen.

Gegen Frankreich müssen sie sich wieder etwas einfallen lassen. Ich hoffe Lahm spielt außen, es ist eine andere, bessere Mannschaft, wenn er außen spielt. Schön, das mal in einem Spiel als Kontrast gesehen zu haben. Als Sechser macht er wenig falsch, als Außenverteidiger ist er eine Klasse für sich. Sieben-Titel-Götze dürfte sich hoffentlich aus der ersten Elf gespielt haben. Ich hoffe, Hummels ist wieder dabei und Müller bleibt fit. Und dann – auf zur nächsten Denksportaufgabe.

Von Anpfiff bis Finale – Rituale, Rituale

Letzte Woche stand ich auf dem Nürnberger Hauptmarkt und möchte an dieser Stelle meiner allergrößten Sorge Ausdruck verleihen. Obwohl im Dezember dort der Christkindlesmarkt stattfinden soll, ist noch überhaupt nichts fertig. Möglicherweise muss dieses Weltereignis abgesagt werden. Möglicherweise auch nicht, wie in den letzten 60 Jahren auch. Ach, was wären Olympische Spiele und Fußball-Weltmeisterschaften ohne den Chor der Lamentierer, die auf die unfertigen Stadien verweisen. Vor allem, wenn die Ereignisse in Dritte-Welt-Ländern wie Südafrika (2010) oder Griechenland (2004) stattfinden. Auch die Bananen in Brasilien sind noch unreif, berichten die 300 akkreditierten Journalisten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten übereinstimmend. Dabei sind die Teams doch schon längst im Land, und brauchen nach dem Training dringend Kohlehydrate.

Ein jegliches Medium bringt sich schon mal in Stellung und zeigt Kernkompetenz. spiegel.de hat die Turnierdaten aller deutschen Mannschaften bei Weltmeisterschaften seit 1966 erfasst und präsentiert sie als Vermessung des deutschen Fußballs. In jahrelanger akribischer Arbeit haben die beteiligten Forscher herausgefunden, dass die Bundesrepublik 1974 Weltmeister wurde, weil sie im Endspiel gegen Holland ein Tor mehr erzielte. In der hochabstrakten Sprache der Statistiker spricht man auch von einem „Zweizueins“.

Die taz wirbt mit einem sechswöchigen WM-Abo. Wer es abschließt – eine Woche Trauerarbeit nach dem vergeigten Endspiel ist inklusive – bekommt entweder das Buch „Fußball in Brasilien – Widerstand und Utopie“, oder die taz spendet zehn Euro an das Comitê Popular da Copa e des Olimpiades in Rio de Janeiro. Die Comites Populares sind ein Netz von Bürgerinitiativen, die über die Folgen von WM und Olympia, Gewalt gegen Demonstranten und andere unschöne Dinge in Brasilien informieren, Proteste und – ganz wichtig – alternatives Public Viewing organisieren. Im Spielort Porto Alegre fand 2001 das erste Weltsozialforum statt. Vielleicht ist das ja ein gutes Omen.

Gut und schön, sage ich da als weltoffener Fan, aber offenbar hat die taz aus dem Antidiskriminierungsurteil noch nichts gelernt. Viel sinnvoller wäre es, eine „Stiftung Linksverteidiger“ zu gründen, um dieser im doppelten Sinne Randgruppe zu einer besseren gesellschaftlichen Verankerung zu verhelfen. Die Tatsache, dass Marcel Schmelzer beinahe bei einer WM dabei gewesen wäre, zeigt überdeutlich: Da gibt es Handlungsbedarf.

Die FAZ entwickelt sich immer mehr zur grauen Eminenz des Klassenkampfes. Nicht nur, dass sie jenes von der taz ausgelobte und von der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebene Buch wohlwollend bespricht. Nein, auf der Titelseite schreibt sie vom „wurmstichigen Altherrenverein FIFA“, um im Sportteil dann ein ziemlich kritisches Porträt von Sepp Blatter zu bringen, obwohl der sich mit Beckenbauer duzt.

Der weltoffene Fan hat derweil ganz andere Probleme. Er muss eine geeignete Location finden, die perfekte Übertragungsqualität mit Pre- und After-Game-Dancing kombiniert und einen kurzen Nachhhauseweg für den wertvollen Sekundenschlaf garantiert. In der Nähe vom Winterfeldtplatz gibt es einen winzigen und leckeren brasilianischen Imbiss und drumherum 1000 Fernseher, aber für die Eröffnung wird es wohl wieder das Haus der Kulturen der Welt werden. Tshabalalas 1-0 gegen Mexiko im Eröffnungsspiel 2010 gehört immer noch zu den besonderen Momenten meiner WM-Geschichte. Wie ein Gewitter über Nordrhein-Westfalen war das, bloß in schön.

Unter rein sportlichen Gesichtspunkten müsste sich Schweinsteiger gegen Portugal auf der Bank und Podolski in der Startelf wiederfinden, aber welche Entscheidung trifft Löw schon unter rein sportlichen Gesichtpunkten? Ich frage mich immer noch, was der arme Kruse ausgefressen hat, weshalb er nicht mitdurfte. Wahrscheinlich hat er mit einem gestohlenen Sponsorenauto einen Blinden überfahren und danach auf den toten Hund gepinkelt. Irgendwas Gravierendes, was seiner Rolle als Vorbild in keinster Weise gerecht wird. Egal, sage ich da als weltoffener Fan. Morgen geht’s los und das ist schön.

Auf anderen Plätzen:

Trainer Baade beantwortet ein paar Fragen rund um die WM und wünscht sich Belgien als Weltmeister.

Torsten Wieland erinnert sich auf koenigsblog.de an Deutschland – Holland 1990 auf Mallorca.

Sebastian Fiebrig stellt auf textilvergehen.de Mutmaßungen darüber an, warum das Fansofa seines Kumpels aus der Alten Försterei geklaut und in die Wuhle geworfen wurde.

Ich stelle Mutmaßungen darüber an, warum ich @textilvergehen auf Twitter nicht folgen darf. Nur weil ich beim 5-3- von Nürnberg gegen Union 2004 im Stadion war? Das wäre sehr nachtragend.