Noch 31.571.618 Sekunden

Unterstellt, das Eröffnungsspiel wird um 20 Uhr Ortszeit angepfiffen, die identisch mit der Mitteleuropäischen Sommerzeit ist, sind es jetzt noch etwas mehr als 31,5 Millionen Sekunden bis zum Beginn der WM in Südafrika. Eine WM ist immer etwas Besonderes, aber diese WM wird anders als alle anderen werden.

Es ist ein Wunder, dass das Turnier in Afrika stattfindet, und das Ende der Apartheid vor 20 Jahren war ebenso überfällig wie das Ende der staatssozialistischen Diktaturen, wobei die Unterstützung für die alten Machthaber am Kap Kalkül des Westens im Kalten Krieg war. Lieber Rassisten als Kommunisten. Diese Rechnung ging in den Dreißiger Jahren schon einmal nicht auf.  Heute werden völkerrechtswidrige Angriffskriege mit „humanitärer Außenpolitik“ legitimiert, die man am Kap nie anwenden wollte, und es gibt Politiker und Juristen, die „Terroristen“ jegliches Menschenrecht absprechen. Es ist noch gar nicht so lange her, da galt Nelson Mandela als Terrorist. Heute erwähnt man seinen Namen im gleichen Atemzug mit Ben-Gurion und Ghandi.

Nicht zuletzt wegen dieser Vorgeschichte wird diese WM auch politischer werden als alle anderen seit der in Argentinien 1978, als kritische Fans mit dem Transparent „Fußball ja – Folter nein“ durchs Düsseldorfer Rheinstadion liefen.  Man mag von Sepp Blatter halten, was man will, aber eine WM für Afrika zu lancieren war nicht nur von der FIFA-Stimmenarithmetik motiviert. Er hat diesen naiv anmutenden Glauben an Fußball als Kraft der Völkerverständigung, und meine Erfahrungen mit diesem Sport haben ihn bisher nicht widerlegt. Mit Ausnahme von Musik und Sex gibt es nichts, was annähernd so universell wäre wie die Beschäftigung mit einem planetenähnlichen Sportgerät.  Die WM in einem Jahr hat die Chance, eine ähnliche Zäsur zu werden wie die Wahl des Sohns eines Kenianers zum Präsidenten der USA. Anlaß genug, um auf dem Weg zum Großereignis auch in diesem Blog ein bißchen über denTellerrand zu schauen.

Es ist übrigens immer noch möglich, dass diese WM scheitert. Die Schweinegrippe ist massiv auf dem Vormarsch, was vor lauter Opel, Arcandor, Hoeneß und Daum ein wenig in den Hintergrund gerückt ist (wurde?). Auch der Kapitalismus bw. seine momentane Krise ist noch lange nicht ausgestanden. Drücken wir trotzdem die Daumen und freuen wir uns. Rufen wir dem kicker zu: Zeit, das Logo von 2006 aus dem Spielplan von 2010 zu entfernen. Es sind ja nur noch 31.570.998 Sekunden.

Die Qual der Quali

Auch die WM-Qualifikation zeigt, dass die Außenseiter und Überraschungsmannschaften auf dem Vormarsch sind. In Europa im Moment auf Platz eins in ihren Gruppen sind zwar bekannte Platzhirsche wie Deutschland, Griechenland, Spanien, England, Italien und Holland, das sich am Samstag vorzeitig qualifizierte und erneut die FIFA-Weltrangliste völlig sinnlos durcheinanderbringt. Keine wirkliche Überraschung. Drei weitere Erstplatzierte lassen allerdings aufhorchen: Dänemark, Slowakei und Serbien, die im Moment Frankreich (mit zwei Spielen weniger) auf Platz zwei verweisen. Weitere starke Zweite sind Rußland und Kroatien sowie mit der Schweiz, Irland und den Schotten, die immer noch von Berti Vogts‘ Aufbauarbeit zehren, drei Nationen mit zumindest internationaler Turnier-Erfahrung aus den letzten Jahren. Dass Bosnien, Nordirland und Ungarn jeweils Zweite sind, ist dagegen ungewöhnlich.  Stärkster Zweitplatzierter ist im Moment sicherlich Russland, ein Team das bei der EM 2008 einen Entwicklungszyklus gerade erst begann und mit Hiddink einen der besten Trainer der Welt hat. Sie können immer noch Gruppenerster werden. In Gruppe 5 ist der zweite Platz von Bosnien-Herzegowina zum großem Ärger der Türkei eine weitere große Überraschung. Dass Bosnien überragende Einzelspieler hat, ist seit Jahren bekannt, jetzt besteht die Chance, dass sie zu einem großen Turnier reisen können.

Nicht dabei wären im Moment Norwegen (hurra!), Rumänien, die Ukraine, die Türkei, Polen, Tschechien, Schweden und Portugal, also sieben Teilnehmer der letzten EM.

In Afrika qualifizieren sich nur die fünf Gruppenersten. Im Moment wären das Gabun, Sambia, Ghana, Tunesien und Burkina Faso, nicht dabei wären Marokko und Kamerun (mit Gabun in Gruppe A),  Algerien, Nigeria (in der Gruppe mit Tunesien), Ägypten und die Elfenbeinküste. Die Tabellen sind noch verzerrt, aber dass Gabun seine beiden ersten Spiele glatt gewinnt, davon 2-1 in Marokko, dass Sambia (FIFA Platz 90) in Ägypten einen Punkt holt, war nicht unbedingt zu erwarten. Nützlich für einen Überblick ist die schon einmal erwähnte FIFA-Weltrangliste, bei der man die verschiedenen Konföderationen, zum Beispiel die Liste des afrikanischen CAF, im Fenster rechts neben der Tabelle, auch separat aufrufen kann. Thomas N’Kono, der Torwart der legendären Mannschaft von Kamerun 1990, ist übrigens mittlerweile als Interimstrainer Nachfolger von Otto Pfister bei den unbezähmbaren Löwen, und spielt am Sonntag zuhause gegen den Mitfavoriten Marokko.

In Asien sind Südkorea, Australien und Japan bereits qualifiziert. Zweiter in Gruppe B und damit heißester Kandidat auf den vierten sicheren Platz ist Nordkorea (FIFA Platz 105), das in der Vorrunde dann hoffentlich auf die USA trifft. Diese belegen zusammen mit Costa Rica und völlig überraschend El Salvador (FIFA Platz 100) einen der drei sicheren Plätze in der CONCACAF-Qualifikation. Mexiko (FIFA Platz 26) wäre im Moment nicht dabei.

Nur in Südamerika haben die Kleinen keine Chance. Erster ist nach dem 4-0 in Uruguay jetzt Brasilien, vor Paraguay, Chile und Argentinien, lauter alte Bekannte. Wobei eine WM ohne Brasilien und Argentinien nur die halbe Freude wäre, es sei denn die Brasilianer spielen so gräßlich wie 2006. Oder wäre das zu diskutieren: Lieber miese Brasilianer bei der WM als gar keine? Die Südamerika-Qualifikation ist insgesamt ein bißchen lau. Von zehn Teams qualifizieren sich bis zu fünf, also 50 Prozent. Und es gibt nur eine Gruppe, ein schnarchiger vierter Platz reicht also völlig aus.