Ein Retortenstück vom großen Kuchen

dolvita108 / Pixabay

Ich bin gespannt, wie es mit Wolfsburg weitergeht. Der dauerverhinderte Weltstar und Miesepampel Julian Draxler ist weg. Gegen den Jungspund mit der Provinzallergie, der mit Raúl zusammen 2013 immerhin das Tor des Jahres fabriziert hat, wirkt Zlatan Ibrahomovic, als hätte er eine Mediationsausbildung absolviert. Auch Klaus Allofs ist weg, ähnlich wie Thomas Schaaf oder Lennon/McCartney konnte er ohne seinen kongenialen Partner nie an die ganz große Zeit anknüpfen. Dafür ist Valérien Ismaël zum Cheftrainer befördert worden und einen neuen Sportdirektor gibt es auch, Olaf Rebbe. Zwischen Rebbe und Ismaël soll es mental-strategisch so mordsmäßig gefunkt haben, dass auch die Mannschaft wieder on fire sein soll.

Bei einer technischen Chartbetrachtung ist Wolfsburg mit 16 Punkten auf Platz 13 zwar ein heißer Abstiegskandidat, aber vielleicht hat ja die Bodenbildung schon eingesetzt und die Wölfe starten gegen den HSV eine Kursrallye. Aber wir wollen nicht spekulieren. Wolfsburg hat wie Hertha den großen Vorteil, dass sich nicht so viele Menschen für diese Mannschaften interessieren. Das heißt, es gibt fast immer Karten. Ich könnte mir zum Beispiel am 25. Spieltag am Samstag Wolfsburg gegen Darmstadt reinpfeifen und dann weiter gen Westen reisen, um am Sonntag Gladbach gegen Bayern zu sehen: Beim Boxenstopp in der Autostadt darf ein Besuch der Sonderausstellung zur Geschichte der Manipulation von Abgaswerten unter dem pfiffigen Titel Heiße Luft – Wichtig ist, was hinten rauskommt natürlich nicht fehlen.

Apropos gen Westen: Der Historiker Heinrich August Winkler hat eine zweibändige Geschichte Deutschlands unter dem Titel Der lange Weg nach Westen geschrieben. Dass am Ende dieses langen Weges Donald Trump auf die Deutschen wartet, ist schon ein bißchen tragisch. Wir haben uns so bemüht, unsere eigenen Sackgesichter auszutreiben und jetzt kommt der. Apropos Gladbach: Dort ist jetzt Dieter Hecking zugange, der besser ist, als ihm in Wolfsburg geschah. Wer es schafft, mit Nürnberg Sechster zu werden, der kann das mit Gladbach auch. Apropos Darmstadt: Torsten Frings ist der erste aus dem WM-Kader von 2006, der eine Stelle als Cheftrainer antritt, Klose ist Azubi beim DFB, fünf Spieler sind noch aktiv. Der Rest bildet die Generation Fernsehexperte (Ballack, Kahn, Lehmann, Metzelder, Hitzlsperger, Kehl). Wenn der Markenkern von Darmstadt Treten Beißen Spucken ist, dann ist Frings der richtige Mann am richtigen Platz. 8 Punkte sind trotzdem verdammt wenig, selbst wenn es bis auf den HSV nur 5 Punkte Rückstand sind.

Apropos Trainerkarussell: Nicht wenige Wegbegleiter und Kenner des 1. FC Nürnberg sind sich ja ganz sicher, dass der Club mit Ismaël garantiert abgestiegen wäre. Genauso, wie sie sich sicher sind, dass der Verkauf von Guido Burgstaller nach Schalke unvermeidlich war. Mit Zusatzklauseln soll Schalke am Ende bis zu 2,5 Mio. für den 14-Tore-Mann bezahlen. Das ist zwar ein bißchen realistischer als die mickrigen 1,5 Mio., die letzte Woche auf Twitter noch als gutes Geschäft gehypt wurden. Wenn in den Klauseln allerdings stünde, dass Schalke Meister werden muss und Burgstaller dazu 14 Tore beizusteuern hat, wäre es immer noch ein schlechtes Geschäft. Aber das kann dem Club nicht passieren. Dort wird endlich mit Augenmaß seriös gewirtschaftet, seit dieser Teufel in Menschengestalt, Martin Bader, nicht mehr sein Unwesen am Valznerweiher treibt, der dem Verein einen Pokalsieg aufnötigte. Bader steht mit Hannover gerade auf Platz 2 der Zweiten Liga. Dort werden weder der FCN noch der VfL Wolfsburg eine Spielklasse weiter oben landen. Aber wenn Ismaël eine gute Rückrunde gelingt, kriegt die Werkself das dringend ersehnte (Re)Tortenstück vom großen Kuchen.

„The Catch“ – 49ers vs. Dallas Cowboys 1982

ZIPNON / Pixabay

Auch wenn der Fußball mit Die Verwirrungen des Zöglings Draxler, Deutscher Mief in deutschen Umkleiden und Kaufrausch in Wolfsburg ein unterhaltsames Programm für die diesjährige Winterpause aufgelegt hat, bleiben wir transatlantisch unverbrüchlich noch ein bißchen beim American Football.

Heute jährt sich ein Ereignis, das prägend war für die Sportgeschichte der USA, vor allem in den achtziger und neunziger Jahren. Ich meine „The Catch“, einen der legendärsten Spielzüge in der Geschichte des American Football. Im Endspiel um die NFC-Championship, vergleichbar mit einem Halbfinale, trafen die San Francisco 49ers mit ihrem Head Coach Bill Walsh als Überraschungsteam der Saison 1981/82 auf ihre Erzrivalen, die Dallas Cowboys. The Catch am 10. Januar 1982 gehört in die Anfangsphase der Erfolgsära der San Francisco 49ers, deren Quarterback (Spielmacher) Joe Montana bis zum heutigen Tag zu den besten Spielern auf dieser Position gehört und vor allem dadurch berühmt wurde, schier aussichtslose Spiele kurz vor Schluß noch in einen Sieg zu verwandeln.

Joe Montana – The Comeback Kid, Big Sky, Joltin‘ Joe

„The Comeback Kid“ war einer seiner vielen Spitznamen, ebenso wie „Big Sky“ Montana (nach dem Motto des nahezu menschenleeren Bundesstaats), oder auch „Joltin‘ Joe“, weil er mit seinem Trickreichtum kaum auszurechnen war. Im Vergleich zu den akuellen Playoffs fällt auf, dass Montanas Spielweise auch nach modernen Standards eine ausgezeichnete und schön anzuschauende Balance zwischen seinen verschiedenen offensiven Spielzügen hatte – langer Pass, kurzer Pass, Laufspiel, Trickspielzug. Er beherrschte das ganze Repertoire, konnte ein Spiel lesen wie sonst kaum einer und besaß eine unglaubliche Nervenstärke. Tom Brady von den New England Patriots, der dieses Jahr als erster Quarterback die Chance hat, seinen fünften Super Bowl zu gewinnen (und damit Montana zu überflügeln) besitzt ebenfalls diese überragende Spielübersicht. Er spielt aber etwas kühler, intellektueller, nicht so schlitzohrig wie Montana. Die aktuellen 49ers haben gerade ihre schlimmste Saison seit Menschengedenken beendet und feuerten danach ihren Trainer. Ein neuer Bill Walsh, der mit Joe Montana seinen kongenialen Partner auf dem Feld hatte, ist leider nicht in Sicht.

Für die Cowboys läutete die Niederlage in Candlestick Park, dem alten Stadion direkt an der San Francisco Bay, den zwischenzeitlichen Niedergang nach einer großen Ära ein. Das Spiel ist im Moment in voller Länge auf YouTube zu sehen. Es war ein verrücktes, wildes, episches Spiel mit insgesamt neun Turnovers (Ballverlusten), davon sechs auf Seiten der 49ers, wobei ein Ballverlust im American Football beinahe so gravierend ist wie ein Eigentor im Fußball. Kleidung, Frisuren, TV-Ästhetik, das ist alles pure Achtziger, auch der Naturrasenacker von Candlestick ist historisch wertvoll. Aber auch nach 35 Jahren ist die Spannung, der Wettkampf zweier großer Mannschaften mit exzellenten Einzelkönnern in jeder Minute zu spüren. Weniger als eine Minute vor Schluß – in einer Minute im American Football kann so viel passieren wie in fünf Minuten im Fußball – düpierte Montana die Abwehrreihe von Dallas mit einem Pass in die Endzone auf seinen Wide Receiver (Fänger) Dwight Clark zum spielentscheidenden Touchdown. Die Cowboys mit ihrem 2,06 Meter großen Abwehrriesen Ed „Too Tall“ Jones, dem dominierenden Running Back der Saison Tony Dorsett und Erfolgscoach Tom Landry waren vom Underdog aufs Kreuz gelegt worden.

Bill Walsh am Taktikbrett

Auch noch viele Jahre danach versuchte Dallas The Catch als ungeplanten Glückstreffer kleinzureden um damit Montanas Leistung und die Größe des Spielzugs zu schmähen. In einem offiziellen Erinnerungsvideo der NFL zu The Catch kommen Dorsett, Jones und Landry ebenso zu Wort wie Clark und Montana. In einer Szene ist Bill Walsh, der Head Coach der 49ers zu sehen, wie er den Spielzug am Taktikbrett erklärt. Der Sieg über Dallas, dem der erste Gewinn des Super Bowl folgte, war kein Glückstreffer – er Präzision, Erfindungsreichtum und Schicksal. Happy Birthday to The Catch!

Guido, der Running Back

Ab dem 7. Januar beginnen die Playoffs in der National Football League (NFL), die dank ran online auch kostenlos in Deutschland zu sehen sind. Zeit, ein bißchen auf diese faszinierende Sportart zu schauen. Auf den ersten Blick ist American Football einfach. Entweder der Ball (das Ei, oder für richtig coole Säue: das Brot) wird vom Spielmacher der Offensive, dem Quarterback, auf einen Fänger wie zum Beispiel einen Wide Receiver (WR) geworfen, oder an einen Läufer, zum Beispiel einen Running Back (RB) übergeben. Der WR braucht gute Hände, damit er ein über 40 Yards geworfenes Ei/Brot magisch ansaugen und sicher fangen kann. Der RB muss Haken schlagen können wie ein Hase. Beide, Fänger und Läufer, dürfen das Ei/Brot auf keinen Fall fallen lassen, auch dann nicht, wenn sie von einem Abwehrspieler getacklet, sprich nach allen Regeln der fairen Sportskunst umgenietet werden. Eine Faustregel lautet: Wenn du den Ball berühren kannst, kannst du ihn auch fangen. Beschützt werden Quarterback, Wide Receiver und Running Back auf ihrem Weg in die gegnerische End Zone zum Touchdown von Offensivspielern, die eine lebende Wand um sie bauen, damit sie keiner umnieten kann. Pässe, vor allem lange Pässe, sind spektakulärer und für den Laien leichter zu begreifen als Laufspiele. Brot und Butter einer guten Offensive aber sind die Laufspiele. Sie sorgen für Variantenreichtum, Tiefe und Unberechenbarkeit und ermöglichen es, in einen Flow zu kommen, in den sich dann immer wieder Pässe einstreuen lassen. Während (gute) Fußballspiele ihre magische Wirkung auch daraus ziehen, dass eine Halbzeit mehr oder weniger ungebremst ihren Lauf nimmt, ist American Football Stop-and-Go. Die Spielzüge dauern meist nur wenige Sekunden, und sind ausgeklügelt bis ins letzte Detail. Im Fußball schnalzt man mit der Zunge, wenn beim Freistoß ein Spieler über den Ball steigt oder wenn ein Eckball einstudiert wird, die Rudelbildung von Wales bei den Ecken war das taktische Highlight der EM 2016.

American Football hat die Präzision eines Kammerorchesters

Im American Football ist jeder Spielzug einstudiert und alle Spieler der Offensive haben ihren Part dabei zu spielen. Man stelle sich eine Freistoßvariante vor, bei der alle Offensivspieler bis auf den Schützen choreographiert ihre Wege laufen. Das höchste der Gefühle beim Fußball ist immer noch eine gut funktionierende Viererkette, auch wenn die Offensive in den letzten Jahren wieder wichtiger geworden ist. Beim American Football gibt der Cheftrainer (Headcoach) in jeder der vielen Spielpausen einen Spielzug vor. Der Quarterback ruft einen Nummern- oder Buchstabencode und alle Offensivspieler müssen ihre Laufwege, Täuschungsmanöver und Blocks abgestimmt und in wenigen Sekunden ausführen. Erfahrene Quarterbacks, die lange mit einem Coach zusammenarbeiten, entscheiden manchmal auch selbst, welchen Spielzug sie ausrufen. Eine gute Offensive im Football arbeitet mit der Präzision eines Kammerorchesters. Der Cellist sitzt aber nicht an seinem Pult, sondern rennt zielsicher über das Feld, um mit seinen 160 Kilo einen Abwehrhünen zu neutralisieren, der auf dem Weg ist, Quarterback, Wide Receiver oder Running Back umzunieten. Improvisation in der Offensive ist im American Football die ganz große Ausnahme, was zählt ist Präzision in der Ausführung der Spielzüge und Variantenreichtum beim Einstudieren. Improvisieren muss vor allem die Defensive, die nicht weiß, welches Spiel die Offensive wählen wird. Dafür gibt es natürlich Erfahrungswerte, unendlich viele Videoanalysen und Spezialisierung auf dem Feld. Es gibt Abwehrspieler, die Jagd auf den Quarterback machen, jene, die die Wide Receiver decken – was am ehesten dem Deckungsverhalten bei einem langen Pass im Fußball entspricht – und wieder andere, die versuchen, Running Backs so umzunieten, dass sie nicht mehr rennen oder – noch besser – das Ei/Brot fallen lassen, damit es die Defensive ergattern kann. Ein Running Back muss deshalb nicht nur flink und wendig sein, er braucht auch Stehvermögen, falls ein gegnerischer Cellist angeflogen kommt.

Gudio Burgstaller denkt wie ein Running Back

Nachdem ich dank ran live NFL in den letzten Wochen mehr American Football gesehen habe als in den letzten 30 Jahren, wurde mir klar. Die große Begabung von Guido Burgstaller (neben seinem Torriecher) ist seine Art und Weise zu laufen. Er bewegt sich, er denkt wie ein Running Back. Fußballer versuchen entweder ihre Gegenspieler zu übersprinten. Oder sie umkurven ihre Gegenspieler wie Slalomstangen, ein passender Vergleich, weil Slalom- und Überläufer auf Geschwindigkeit gehen. Burgstaller geht auf die Lücke, genau wie ein guter Running Back. Er schafft es, im Dribbling durch zwei Abwehrspieler hindurch zu gehen, ohne zu foulen. Weil er so eine unglaubliche Physis aufweist, ist er oft in der Lage, den Ball nach so einer Kraftaktion auch noch an den besser postierten Mitspieler zu geben. Genau wie ein Running Back läßt er sich nicht hinfallen, jeder Inch, jeder Zentimeter zählt. Auch wenn er nicht jeden Freistoß kriegt, den er möchte, er ist ein Spieler, den man umreißen oder umtreten muss, um ihn zu stoppen. Ein Schubserchen oder Trikotzerren ist ihm egal. Burgstaller hat nicht die karnickelhafte Wendigkeit eines Götze oder Messi. Aber er bleibt im Spiel, er hält den Ball im Spiel. Mir fällt kein anderer Spieler ein, der mit dem Ball am Fuß in der Lage ist, so geradlinig durch eine Abwehrreihe hindurch zu gehen wie er. Terminator 2 aus Flüssigmetall kommt in den Sinn. Er verdribbelt sich selten, weil er keiner von den Dauerdribblern ist, die immer Vollspeed draufgehen. Er macht Trippelschritte bis er eine Lücke findet. Er verlangsamt und beschleunigt wie ein Running Back, der immerzu das Spielfeld vor sich lesen muss. Was diese Tempowechsel und die Ballsicherheit angeht, kenne ich keinen anderen Stürmer in Liga Eins und Zwei, der im das Wasser reichen könnte. Aubameyang ist der klassische Sprinter mit Ball am Fuß, Lewandowski kann ein Spiel besser lesen und stiehlt sich davon, Ibisevic ist ein klassischer One-Touch-Knipser. Aber Burgstaller ist der Ballträger par excellence, ein Running Back in rot und schwarz.