Der Caddy von Arjen Robben möglicherweise

War das jetzt Dusel, Kaltschnäuzigkeit, eine Fehlentscheidung des Schiedsrichters, oder waren es die deutschen Tugenden im Van-Gaal-Remix? Holland wirft die lange führenden Mexikaner in den allerletzten Minuten des Achtelfinales aus dem Turnier. Vielleicht der größte Turnaround, seit Sheringham und Solskjær 1999 in Barcelona trafen. Dusel war es sicherlich auch ein bißchen, vor allem bei Sneijders Sonntagsschuß. Sneijder versemmelt sonst weitaus größere Chancen, hier passte alles. Sogar dem formidablen Ochoa versperrte der Fußballgott für einen Moment die Sicht. Der berühmte Fußballkommentator Vergil beschreibt ein ähnliches Mißgeschick, das Palinurus, dem Steuermann des Aeneas widerfuhr. Erst sieht er nichts, dann folgt der sudden death.

Siehe der Gott mit dem Zweige, vom Tau der Lethe gefeuchtet
Und einschläfernden Kräften der Styx, umschüttelt ihm beide
Schläfen; und bald schwimmet des Sträubenden Aug‘ in Betäubung.
Kaum erst hatte die Ruh unversehns ihm die Glieder gelöset,
Da machtvoll andrängend, mit berstendem Teil des Verdeckes,
Und mit dem Steuer zugleich warf jener in wallende Flut ihn

(Aeneis, 5. Gesang, Vers 854-859)

Eine Fehlentscheidung des Schiedsrichters war der Elfmeter nicht. „Eine Robbe macht noch keinen Elfer“ habe ich beim DFB-Pokalfinale vor ein paar Wochen getwittert (@robalef), als der schnelle Arjen es wieder mal versuchte. Aber in diesem Fall trat ihm Marquez tatsächlich plump auf den Fuss. Abgesehen davon, dass der Holländer niemals an der Grundlinie diesen Haken schlagen darf, da stimmten die Laufwege bei den Mexikanern nicht, sie sind in dieser Situation – daher kommt die Floskel – dumm gelaufen. Der Erfolg für Holland kam, als Van Gaal aufhörte, mit dem 4-3-3 zu fremdeln , und „der Hunter“ war der Kälteste von allen im Glutofen von Fortaleza, als sein Moment gekommen war.

Im Baseball gibt es einen Relief Pitcher. Das ist ein Werfer, der nicht gut genug (konstant und nervenstark) für den starting line up (im Fußball für die Startelf) ist, aber vor allem durch seinen Fastball einen Vorsprung in den letzten der neun Innings (Spielrunden) sichern kann. Klingt irgendwie sehr nach Huntelaar in der Elftal. Oder ist er vielleicht doch eher ein Field Goal Kicker? Der Caddy von Arjen Robben? Das gute Pferd, das nicht höher springt, als es muss? Ein Schalker Jung ist er. Was irgendwie dafür spricht, dass Holland am Ende doch wieder Zweiter wird.

Bisher waren zwei der Hauptfavoriten mit einem Bein schon draußen, beide kamen zurück. Auch das ist eine Qualität. Wenn die Chilenen gewusst hätten, dass Julio Cesar eine Erfolgsquote von 30 Prozent beim Halten von Elfmetern hat, dann hätten sie vielleicht nach dem 1-1 noch eine Schippe drauf gelegt. Kolumbien zieht einsam seine Bahn, unbeachtet von den deutschen Berichterstattern, nicht zu halten von seinen Gegnern. Ob die den Brasilianern beikommen können? Die Spiele der Brasilianer erinnern mich an ihre Auftritte 2002, wo sie öfters, zum Beispiel im Halbfinale gegen die Türkei, schwer unter Druck waren, und trotzdem immer noch eine Antwort fanden. Im Zweifel ein Tor von Ronaldo.  Am Ende stand der Titel in einem tollen Endspiel mit einer überraschend guten deutschen Mannschaft, die sich bis auf das 8-0 gegen Saudi-Arabien („Rudi, hau die Saudi“) minimalistisch durchgerumpelt hatte. Ist zwar nicht sonderlich brasilianisch, wenn ein Abwehrspieler (Luiz) den anderen (Jara) zu einem Eigentor zwingt, aber wer die Hexa will, muss manchmal die Quaratur des Kreises versuchen.

Meine Geheimfavoriten (2)

Meine Geheimfavoriten haben alle noch ein Spiel vor sich und müssen bis zum Abschluss der Gruppenphase aus datenschutzrechtlichen Gründen noch geheim bleiben.

Einer ist leider schon ausgeschieden, weil ein Schiedsrichter kurz nach Mitternacht ein reguläres Tor aberkannt hat. Dafür hat jetzt eine Mannschaft eine Chance aufs Weiterkommen, die von einem Kontinent kommt, für dessen Teams ich allergrößte Sympathien habe.

Einer meiner Geheimfavoriten ist schon qualifiziert und spielt heute um den Gruppensieg. Sie haben einen Titelfavoriten aus dem Turnier gekegelt und das 1-0 in diesem Spiel war Poesie wie von Pablo Neruda (zwinker, zwinker). Einer der Spieler heißt wie ein Sänger aus dem Land, den man ermordet hat.

Der dritte Geheimfavorit hat von einem Ex-Weltmeister eine mittelschwere Klatsche übergeholfen bekommen und muss das letzte Spiel gewinnen, hat aber durchaus eine realistische Chance aufs Weiterkommen, wenn sein Trainer nicht vorher an einem Magengeschwür zugrunde geht. Die Abwehr war löchrig wie, na, wie…?

Der vierte Geheimfavorit wird vermutlich Opfer einer abgefeimten Absprache zwischen ehemals ziemlich besten Freunden. Selbst wenn sie ihr letztes Spiel hoch gewinnen, könnte es nichts nutzen. Die Mannschaft spielt in einer Gruppe, in der es bisher nur außergewöhnlich spektakuläre Spiele gab.

Anmerkungen:

Die öffentlich-rechtliche Berichterstattung spottet weitgehend jeder Beschreibung. Tom Bartels bei Deutschland-Ghana an Borniertheit kaum auszuhalten. Plädiere für kommentarlose Spiele. Lieber Planstellen abbauen und Alphabetisierungskampagnen in anderen Ländern damit finanzieren.

Japan und Südkorea waren stark, als alle defensiv spielten. In dieser Offensiv-WM geben sie keine gute Figur ab.

Costa Rica rocks. Jetzt müssen die Urus bloß noch Italien rauswerfen.

Zwei Ex-KSC-Spieler sind die meinungsbildenden Experten dieses Landes. Warum ist der KSC nur zweitklassig?

„The Last of England“ ist der Titel eines ziemlich tollen Films von Derek Jarman. Er passt aber auch für die letzten zwanzig Minuten von England – Uruguay.

Was für ein unglaublicher Luxus, Podolski, Klose, Weidenfeller und Schweinsteiger auf der Bank zu haben. Gut gewechselt, Bundestrainer.

Wenn Poldi gegen die USA ein Tor schießt, rennt er aus Versehen zu Klinsmann und umarmt ihn.

Freundliche Einladung zu meiner nächsten Lesung:

Am 28. Juni lese ich von 18 – 18.30 Uhr in der Bier- und Weinbar Otello in der Poststraße 28, 10178 Berlin aus meinem Kriminalroman „Immer schön gierig bleiben„. Veranstalter ist der Verein Nikolaiviertel e.V., der am kommenden Wochenende zum 1. Berliner Bücherfestival einlädt. Ich freue mich auf viele Zuhörerinnen und Zuhörer und glaube nicht, dass in der ersten Halbzeit des ersten Achtelfinales sonderlich viel passieren wird.

Mäßig bewegt, leicht verkrampft

Nichts ist trauriger, als der Versuch, einen unverhofft glücklichen Moment planmäßig zu reinszenieren. Die WM 2006 war ein solcher Moment. Statt Deutschtümelei, prügelnden Nazis und Rumpelfußball gab es aus dem Nichts vier Wochen sonnendurchfluteter Sommermärchen-Seligkeit. Leider meinen nun sehr viele, das unverhoffte Glück lasse sich pünktlich zum 12. Juni 2014 noch einmal aufführen. Diese WM hängt emotional noch reichlich durch, obwohl das 4-0 gegen Portugal sicherlich die reifere sportliche Leistung war als das 4-2 gegen Costa Rica.

Woran es liegt? Da gibt es Funktionärsfehden, die auf offener Bühne ausgetragen werden. Und sogar der Kaiser soll gefehlt haben. Das schlägt aufs Gemüt in der Komfortzone DFB. In der Ukraine und/oder im Irak bricht möglicherweise noch vor dem Ende der Vorrunde der Dritte Weltkrieg aus, womöglich muss deswegen der Bundesligastart verschoben werden. Die Schweinis und Poldis kommen allmählich in die Jahre, die biologische Uhr tickt, und wenn sie nicht bald was gewinnen, ist es vorbei für sie. Lauter Spieler mit 150 Länderspielen, aber ohne Titel, das sieht irgendwie doof aus. Vielleicht hängt auch noch Ballacks Donnergrollen in den Köpfen, der da sagte, bei einem dritten Platz gäbe es nichts zu feiern. Wer will sich schon zum Deppen machen, in dem er eine grandiose Vorrunde ekstatisch bejubelt, um dann im Halbfinale von Spanien, Italien (Holland, Brasilien) taktisch und sportlich wieder einmal vorgeführt zu werden?

Trotz der leicht angespannten Rahmenbedingungen wird unverdrossen zum Public Viewing gepilgert, werden die Autos beflaggt und die Außenspiegel mit Strumpfsocken in den Landesfarben verunstaltet. Die Medien jubeln, die Kanzlerin jubelt und managt Maut, Ukraine, NSA,  Irak in der Halbzeitpause auf dem iPad. Da will keiner abseits stehen, obwohl viele mit den Gedanken woanders sind. Die Werber sind sowieso wie immer völlig von Sinnen. Alles ist jetzt Fußball. Die Firma Tena hat einen speziellen Inkontinenzschutz für Männer entwickelt und wirbt im kicker mit Feinripp in Großaufnahme und dem Slogan „Mehr Sicherheit im Mittelfeld“. Mir fällt dazu sofort ein absolut glaubwürdiger Werbeträger ein, aber genug davon: Pippilotta Viktualia aus Lüdenscheid hat seine zweite Chance verdient.

Rein sportlich gibt es eine Menge Positives: Es wird offensiv gespielt, bereits sechs Spiele wurden gedreht. Die vom Stress der europäischen Ligen erschöpften Spieler sind fast alle fit, der Trend geht dahinm nicht Die Gruppen sind sehr ausgeglichen, Costa Rica gelang eine echte Sensation, auch Bosnien, die Schweiz und die USA schlagen sich wacker. Frankreich und Italien werden nicht so grottig spielen wie 2010, Spanien ist nicht mehr unantastbar.

Auf der Negativseite ist das uninspirierte Spiel Brasiliens zu beklagen. Nichts dagegen, wenn der Favorit Nummer Eins in ein Turnier stolpert, das ging schon vielen späteren Weltmeistern so. Aber das Spiel gegen Mexiko erinnerte mit seiner atemberaubend hohen Fehlpassquote an ein leidenschaftlich geführtes Zweitligaspiel. Mehr als drei Pässe in Serie kamen nicht an. Nur Ochoa war Weltklasse und ist auf dem Weg, der Jan Tomaszewski des 21. Jahrhunderts zu werden.

Ein weiteres Ärgernis sind einige bizarre Schiedsrichterleistungen. Im Eröffnungsspiel wurde Kroatien vom japanischen Schiedsrichter Yuichi Nishimura mehrfach krass benachteiligt. Wer sich fragt, wieso ein Japaner ein WM-Eröffnungsspiel pfeift, der sollte wissen: Das Auswahlverfahren der FIFA für die Schiedsrichteransetzungen ist unübersichtlich. Kriterien sind jahrelange Pfründe, persönliche Abhängigkeiten, regionaler Proporz, voreilig gemachte Zusagen und der Weg des geringsten Widerstandes. Kurz gesagt werden die Schiedsrichter bei einer WM genauso ausgewählt wie die Bundesminister der CSU. Nicht immer landet der richtige Mann auf dem richtigen Posten, dafür murrt die Basis nicht.

Eine Enttäuschung waren die afrikanischen Mannschaften. Kamerun, Nigeria und Algerien zu defensiv-halbherzig, Ghana nicht entschlossen genug, nur die Elfenbeinküste hat gute Chancen auf das Achtelfinale.

Schland war gut, bot mit Holland und Costa Rica die beste Leistung bisher. Götze muss ich nicht in der Startelf haben, aber Schürrle und Podolski sind natürlich die besseren Joker. Boateng wächst weiter über sich hinhaus,  niemand vermisst Schweinsteiger. Ich halte Ghana und die USA für stärker als Portugal, die nächsten Spiele werden enger.